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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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eine schwere paranoide Schizophrenie sind: Störungen des Langzeit- und Kurzzeitgedächtnisses, Störungen des logischen Denkens und vor allem mein sogenanntes ›positives‹ Hauptsymptom: auditivverbale Halluzinationen.
    Ja, ich höre Stimmen in meinem Kopf.
    Hunderte von verschiedenen, neuen, nahen oder fernen Stimmen. Alle Tage, überall, hier und jetzt. Wie Gemurmel von irgendwoher, Drohungen, Beschimpfungen, Schreie oder Schluchzen, Stimmen, die von den Metrogittern hochsteigen, Stimmen aus den Kanalmündungen, Stimmen, die hinter den Mauern murmeln … Sie kommen mitten in Krisen, wenn sich meine Augen trüben und mein Gehirn vor Schmerz aufheult.
    Seit dieser Zeit unterzieht man mich einer Behandlung auf der Grundlage antiproduktiver Neuroleptika, die meine Wahnzustände und Halluzinationen mehr oder weniger eindämmen. Die Medikamente haben sich weiterentwickelt, aber meine Krankheit nicht. Ich habe gelernt, mit ihr zu leben und auch mit den Nebenwirkungen der Antipsychotika: Gewichtszunahme, Apathie, unsteter Blick, Libidoverlust … Schließlich hilft die Apathie enorm, alles andere zu ertragen. Und nicht mehr zu kämpfen.
    Gezwungenermaßen habe ich schließlich akzeptiert, dass ich einfach krank war, dass diese Stimmen nur das Produkt meines kranken Hirns waren. Trotz des erstaunlichen Realismus meiner Halluzinationen habe ich sie als solche erkannt und mich den Tatsachen gebeugt, wie mein Psychiater mir geraten hatte. Nach mehreren Jahren habe ich mich dazu entschlossen. Im Grunde glaube ich, dass es weniger anstrengend für mich war, meinen Wahnsinn zu akzeptieren als ihn abzulehnen. Meinem Psychiater ist es sogar gelungen, vor fast zehn Jahren eine Arbeit für mich zu finden. Ich bekam eine Stelle bei Feuerberg, einer Gesellschaft für Patente, und machte die EDV-Erfassungen. Das war nicht sehr schwierig. Ich brauchte lediglich kilometerlange Kolonnen von Zahlen und Worten einzutippen, ohne über ihre Bedeutung nachdenken zu müssen. François de Telême, mein Chef, wusste, dass ich schizophren bin, und es war kein Problem für ihn. Das Wichtigste war, dass ich es selbst wusste.
    Nach dem Einsturz des SEAM-Turms war für mich nichts mehr sicher. Nicht einmal der Einsturz. An jenem Tag änderte sich alles. Für immer.
    Unter dem Turm liegt ein Geheimnis begraben, das nur ich kenne und das vieles in Frage stellt. Ich weiß, dass man mir vermutlich nicht glauben wird. Aber das spielt keine Rolle. Ich habe mich daran gewöhnt. Lange Zeit habe ich mir schließlich selbst nicht geglaubt.
    Es ist schwierig, über sich selbst zu reden, wenn man keine Erinnerungen hat. Es ist schwierig, sich zu lieben, wenn man keine Geschichte besitzt. Aber an jenem berühmten 8. August hat das Leben mich gefunden. Plötzlich kenne ich das Verb, das mich zum Wahnsinn treibt.
    Ich werde also reden.
04.
    Moleskin-Notizbuch,
Anmerkung Nr. 89: die Sinnsuche
    Auch wenn ich schizophren bin, habe ich immer noch das Recht zu denken. Selbst falsch herum. In der Sinnsuche liegt keine Gefahr. Es ist eine Suche nach dem Leben, der Existenz, im kartesianischen Sinn. Ich denke, also bin ich. Die Schizophrenie lässt mich dermaßen an der Realität zweifeln, dass es nur in meinen Gedanken eine sichere Existenz gibt.
    Alles lässt sich erklären. Alles verdient, sorgfältig untersucht zu werden. Denn nichts kann voll und ganz erkannt werden.
    Deshalb notiere ich, kritzle ich, suche ich und schreibe in diese Moleskin-Notizbücher. Ich habe welche, die schon überquellen. Wohin ich auch gehe, ich habe immer eines dabei, jederzeit greifbar. Wenn ich lese – und ich lese viel –, wenn ich nachdenke, wenn ich weine, kritzle ich schließlich immer etwas in diese kleinen schwarzen Notizbücher. Guten Tag, kleines schwarzes Büchlein. Du bist weder das erste noch das letzte.
    Häufig flüchte ich mich in die Bibliotheken. Bücher haben die Eigenschaft, niemals ihre Meinung zu ändern. Sie können es versuchen. Man liest sie wieder, sie sagen immer das Gleiche. Nur unsere Deutung entwickelt sich weiter. Aber die Bücher besitzen zumindest diese Konstanz, die mich beruhigt. Am stabilsten sind die Lexika. Sie sind meine besten Freunde.
    Den Kopf in der Mulde zwischen den Seiten aus Bibelpapier vergraben, bin ich eine Statue, die denkt. Ich kann nicht umfallen.
05.
    Sofort nach der Explosion, während Blut über meine Schläfen und meine Hände rann, lief ich, von Panik ergriffen, wie betäubt davon. Ich lief lange Zeit. Ich rannte einfach, ohne

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