Das Krähenweib
erlebt, wie kurz das Leben sein konnte. Der Tod schlich durch die Straßen und hielt beständig Ausschau nach Opfern. Wurde er aus einer Kammer vertrieben, kehrte er in die nächste ein.
Wann würde er sie holen? Wann schlug Mertens so kräftig zu, dass sie am nächsten Morgen nicht wieder aufwachte?
Annalenas Magen schnürte sich zusammen, sie hatte Angst davor, etwas zu tun, und Angst davor, nichts zu tun. Sie wusste einfach nicht weiter. Würde Mertens ihre Gedanken kennen, schlüge er sie ganz bestimmt tot. Du bist immer noch jung. Fern von hier könntest du neu anfangen. Niemand wird wissen, wer du bist. Niemand wird dich schlagen oder beschimpfen. Du musst nur dieses Haus verlassen, fortgehen aus Walsrode …
Eine schemenhafte Bewegung schreckte sie auf. Ein Schatten kam die Straße entlang. Da der Nachtwächter seine Runde bereits gemacht hatte, konnte er nur einem gehören.
Annalenas Herz begann zu rasen.
Was sollte sie nur tun?
Bestenfalls war Mertens so betrunken, dass er nicht mehr in der Lage war, seine Hose zu öffnen. Doch sein Gang war dafür zu gerade. Das hieß zwar nicht, dass er sich nicht anständig betrunken hatte, aber sein Körper war das Bier und den sauren Wein gewöhnt. Er war nicht betrunken genug.
Die Angst packte Annalena so hart, dass sie meinte, keine Luft bekommen zu können. Sie versuchte, ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen, die aufsteigende Panik zu unterdrücken, merkte aber schon bald, dass sie nicht dagegen ankam. Diese Nacht würde wie jede andere verlaufen, und im Morgengrauen könnte sie sich das Blut von den schorfigen Wunden waschen.
»Weib, wo bist du?«, tönte die trunkene Stimme von Mertens durchs Haus. »Verdammt, wo steckst du, verfluchte Hure?«
Annalena blieb wie erstarrt am Fenster stehen. Plötzlich flog die Tür der Schlafkammer auf und Mertens trat ein. Er stank nach Wein und Rauch. Als er bemerkte, dass ihr Gesicht bleich vor Angst war, lächelte er, dann zog er mit langsamen Bewegungen den Gürtel aus seinem Wams.
Alles in ihr schrie, dass sie fliehen sollte, irgendwie, irgendwohin, wo er sie nicht erwischen konnte. Doch wenn sie den ersten Schritt tat, gab es kein Zurück mehr. Mertens würde sie umbringen, wenn sie sich wehrte. Plötzlich hatte sie wieder den Geköpften vor Augen. Und Hinnings blutverschmierten Stumpf. Und sie sah sich selbst, blutend und gebrochen zu Mertens’ Füßen liegend.
Mertens näherte sich ihr langsam, triumphierend. Er zweifelte nicht daran, dass er heute Nacht erneut seinen Spaß mit ihr haben würde.
Doch heute hatte ihr der Tod zu klar vor Augen gestanden, als dass sie noch länger ignorieren konnte, dass auch ihr eigener Tod von Mertens’ Hand nur noch eine Frage der Zeit war.
Willst du dich wieder von ihm prügeln lassen? Willst du, dass er dich heute vielleicht totschlägt? Dass du zu Aas wirst wie der Mörder oder Hinnings abgeschnittener Fuß?
Sie kannte die Antwort auf diese Fragen und endlich, vielleicht das erste Mal seit Jahren, verspürte sie echten Lebenswillen in sich. Die Furcht war immer noch quälend, aber der Wunsch, frei von Mertens zu sein, gewann die Oberhand und trieb sie voran.
Flieh! Sieh zu, dass du fortkommst von hier!
Flink huschte sie zur Seite, noch bevor Mertens ausholen konnte.
Mertens war es gewohnt, dass sie wie versteinert stehen blieb und kuschte. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.
»Willst mit mir spielen, Miststück, was?«, zischte er, wobei er Speicheltröpfchen versprühte.
Annalena kämpfte gegen die altbekannte Lähmung an, stachelte sich in Gedanken an. Du hast einem Mann das Bein abgeschlagen, also kannst du auch Mertens’ Riemen entkommen!
Als er auf sie zukam, träge durch den Wein, gab Mertens die Tür frei. Sie zwang sich zur Ruhe, wartete, bis er fast bei ihr war. Dann war es so weit. Lauf!, schrie sie sich in Gedanken zu. Und sie gehorchte.
Der Lederriemen klatschte ins Leere. Mertens brüllte wütend auf. »Was fällt dir ein, du stinkende Hure, die Haut werde ich dir abziehen!«
Doch die Worte berührten sie nicht. Als sie zur Tür rannte, hoffte sie nur, schnell genug zu sein. Mertens tobte ihr wütend hinterher. Der Schwall an Schimpfworten, der über seine Lippen kam, übertraf alles, was sie bisher gehört hatte.
Fast hatte sie die Tür erreicht, als sie brutal zurückgerissen und zu Boden geschleudert wurde. Mertens begann sofort, wie ein Wahnsinniger auf sie einzuschlagen, während sie sich verzweifelt zusammenkauerte und
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