Das Krähenweib
Magen zog sich bei diesem Gedanken schmerzhaft zusammen, und ihr Mund wurde trocken. Doch ihre Angst durfte sie gegenüber Helga nicht zeigen.
Schließlich schleppte Martje den Kessel in den Raum und verließ ihn dann gleich wieder, damit sie nicht mit ansehen musste, was hier geschah. Annalena tauchte das Messer und die Säge ins heiße Wasser.
»Helga, schieb deinem Mann etwas zwischen die Zähne«, befahl Annalena. Es gelang ihr, ihre Stimme fest klingen zu lassen, wenn auch ein wenig atemlos. »Dann bleib neben seinem Kopf und halte ihn. Er wird gewiss vom Schmerz erwachen.«
Die Frau griff nach einem der bereitliegenden Tücher und drehte es zusammen. Wenig später schob sie es ihrem Mann in den Mund. Hinning nahm es mit einem leisen Stöhnen hin.
Annalena zog dann das Messer aus dem Topf und setzte es über dem brandigen Stück im gesunden Fleisch an. Tief durchatmend schloss sie die Augen und flehte Gott leise um Kraft an. Dann senkte sie die Klinge ins Fleisch.
Dunkles Blut sickerte zunächst langsam aus der Wunde, doch als sie tiefer schnitt, spritzte es ihr in einem breiten Schwall entgegen. Innerhalb weniger Augenblicke färbte sich das Laken rot, Blutspritzer sprühten über ihr Gesicht, ihre Hände und den alten Kittel, den sie übergeworfen hatte. Der faulige Geruch des Eiters mischte sich mit dem Rostgeruch des Lebenssaftes.
Gegen die aufkommende Übelkeit ankämpfend, warf Annalena das Messer beiseite und griff nach der Säge. Das Geräusch, das die Zähne machten, als sie sich in den Knochen fraßen, war grauenhaft, doch sie machte weiter.
Wie sie es vermutet hatte, schrie Hinning nun plötzlich auf, bog den Rücken durch und begann, mit den Armen um sich zu schlagen.
»Halt ihn fest!«, rief sie Helga zu und versuchte, möglichst schnell weiterzuarbeiten. Die Säge rutschte immer wieder vom Knochen ab und mehrmals verletzte sie sich beinahe selbst, denn Helgas Kraft reichte nicht aus, um ihren Mann zu bändigen. Er tobte weiter und brüllte so laut, dass es in ihren Ohren schmerzte.
Das Pochen in ihrer Schläfe wurde jetzt beinahe unerträglich und sie glaubte, sich jeden Augenblick übergeben zu müssen. Sie war sich fast sicher, dass sie es nicht schaffen würde, doch dann brach der Knochen endlich und sie konnte den Rest der Haut und Sehnen leicht durchtrennen.
»Ich brauche den Schürhaken!«, rief sie und atmete tief durch, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Martje lief herbei und blickte dann auf das abgetrennte Stück Unterschenkel. Ihr Gesicht verfärbte sich grün, doch Annalena beachtete es nicht.
Der Schürhaken war rußgeschwärzt und so heiß, dass sie ihn nur mit einem Lappen um den Griff anfassen konnten. Ein widerliches Zischen ertönte, als Annalena ihn auf die Wunde presste, und ein unaussprechlicher Geruch erfüllte die Stube. Doch größer als Annalenas Unwohlsein war nun die Erleichterung, es vollbracht zu haben.
Hinning hatte in den letzten Minuten schließlich das Bewusstsein verloren. Sein Kopf lag schlaff auf der Seite, aber er atmete noch.
»Wird er es überstehen?«, fragte Helga, als Annalena das bereitliegende Verbandstuch um den Stumpf schlang.
»Das liegt jetzt in Gottes Hand«, antwortete sie. »Lass den Verband so lange auf der Wunde, bis er durchgeblutet ist, dann erneuere ihn. Ich werde dir nachher Kräuter gegen das Fieber bringen. Und schafft den Fuß weg.«
Helga ergriff ihre blutige Hand und drückte sie an ihre Wange. »Gott segne dich für deine Hilfe.«
»Schon gut, ich helfe gern.«
Damit nahm sie Messer und Säge wieder an sich und trat an Martje und den Kindern vorbei nach draußen.
Dort erlaubte sie sich endlich das Zittern, das sie die ganze Zeit zwanghaft hatte unterdrücken müssen. Sie hatte es geschafft. So Gott wollte, hatte sie Hinning das Leben gerettet. Doch Annalena gönnte sich nur einen kurzen Moment der Freude, bevor der Gedanke an ihren Ehemann sie schnell aufbrechen ließ.
In der Ferne läutete die Totenglocke. Ihr Klang begleitete sie nach Hause, wo ihr Tagwerk wartete.
2. Kapitel
M ondschein fiel durch das Fenster und erhellte mit seinem fahlen Licht die Kammer. Annalena lehnte am Fensterrahmen und beobachtete die abendliche Straße. Das Bett hinter ihr war unberührt.
Ihr Vergleich des Lebens mit einem Mühlstein ging ihr auch jetzt wieder durch den Kopf. Auf den Tag folgt die Nacht und auf das Tagwerk folgt die Rückkehr meines Gemahls. Was erwartet mich in den kommenden Stunden?
An diesem Tag hatte sie
Weitere Kostenlose Bücher