Das kritische Finanzlexikon
einem heftigen Sturm im Wald einen großen, abgebrochenen Baumstamm. Unterstellen wir der Einfachheit halber, dass kein Dritter Anspruch auf das Holz erhebt. Somit handelt es sich hier um ein »freies Gut«. Unser Finder zersägt den Stamm in handliche Bretter, die er für 50 Euro an einen Tischler verkauft. Der Tischler fabriziert mit Unterstützung seines Gesellen aus den Brettern ein schönes Regal und veräußert dieses für 200 Euro an einen Möbelhändler. Der Geselle erhält aus dem Verkaufserlös einen Lohnanteil in Höhe von 60 Euro. Unser Händler findet einen Kunden, der das Regal gerne in sein Wohnzimmer stellen möchte und bereit ist, 300 Euro dafür zu zahlen. Der Händler nimmt den Auftrag (Lieferung frei Haus und Aufbau des Regals) gerne an, denn nach Abzug von 40 Euro Lohnanteil für seinen Bürogehilfen bleiben ihm noch 60 Euro Gewinn.
In den einzelnen Stufen der Wertschöpfungskette sieht das Ganze dann wie folgt aus:
Mithilfe von Arbeitskraft – Sachkapital , zum Beispiel Hammer und Säge, sowie Betriebsmittel wie Nägel, Leim etc. lassen wir mal außen vor – wurde fast aus dem Nichts heraus ein Wert von 300 Euro geschaffen. (Vom Finanzwahn befallene Akteure aus der Wirtschaft behaupten von sich, sie hätten die gleichen Fähigkeiten; bei ihnen sehen Vorgang und Volumen jedoch anders aus. Näheres dazu unter → Werte schaffen. ) Das Bruttoinlandsprodukt beträgt 300 Euro und entspricht dem Endpreis des Regals. Die 300 Euro haben zwar den Kunden des Händlers ärmer gemacht, andere wiederum beglückt:
• Finder des Baumstamms: 50 Euro Gewinn (Arbeitsleistung als Selbstständiger)
• Tischler: 90 Euro Gewinn (Arbeitsleistung als Selbstständiger)
• Händler: 60 Euro Gewinn (Arbeitsleistung als Selbstständiger)
• Geselle: 60 Euro Lohn (Arbeitsleistung als Angestellter)
• Bürogehilfe: 40 Euro Lohn (Arbeitsleistung als Angestellter)
Nicht nur die Höhe des Bruttoinlandsprodukts kann man an diesem Beispiel nachvollziehen, sondern auch die Verteilung: Die Angestellten erhalten ein Drittel, auf die selbstständig Tätigen entfallen zwei Drittel des Kuchens. Die Lohnquote beträgt also 33 Prozent, die Gewinnquote 67 Prozent. Das EinDrittel-Zwei-Drittel-Verhältnis haben wir auch in Deutschland, nur umgekehrt: Die Lohnquote beträgt bei uns etwa 67 Prozent, Tendenz sinkend – vgl. → Y (Volkseinkommen ).
Unter dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) versteht man den Wert aller Güter und Dienstleistungen, die innerhalb eines Zeitraumes in den geografischen Grenzen eines Landes geschaffen wurden. Wir kamen in Deutschland 2012 auf ein BIP in Höhe von 2 650 Milliarden Euro – zu aktuellen Preisen dieses Jahres bewertet. Das entspricht etwa 3 400 Milliarden US-Dollar. Das BIP in Österreich belief sich im gleichen Zeitraum auf 310 Milliarden Euro (395 Milliarden US-Dollar); die Schweiz kam auf 593 Milliarden Franken (632 Milliarden US-Dollar). Zum Vergleich: In der Europäischen Union betrug das BIP im gleichen Zeitraum 16 600 Milliarden Dollar und lag damit über der Wirtschaftsleistung der Vereinigten Staaten (15 700 Milliarden Dollar).
Regale, Couchtische, Autos, Butter, Beratungsleistungen von Rechtsanwälten – alles dies ist im BIP enthalten. Und »die Deutschen«, »die Europäer«, »die Amerikaner« haben über den oben beschriebenen Verteilungsmechanismus davon profitiert. Die Möbel-, Auto-, Butterproduzenten ebenso wie Rechtsanwälte, aber auch die ganzen Angestellten, die in den Leistungserstellungsprozess eingebunden waren.
Wenn alle ständig Güter konsumieren beziehungsweise Dienstleistungen in Anspruch nehmen, wenn investiert wird, findet eine wechselseitige Verteilung von Geld statt. Dann profitiert die Volkswirtschaft in ihrer Gesamtheit, denn der Wohlstand steigt, zumindest nach dem Lehrbuch, durch diesen Wertschöpfungsmechanismus. Dies suggeriert das allseits vorherrschende Wachstumsdogma, auf dem unser Wirtschaftssystem basiert.
Auch die Finanzindustrie leistet einen Beitrag zur Entstehung des Bruttoinlandsprodukts. Dieser Anteil beträgt bei uns etwa 5 Prozent. (In anderen Ländern, die der Bankenwelt noch ausgeprägter gehuldigt haben, ist er größer; das fürstliche Liechtenstein beispielsweise kommt auf eine Quote von nahezu einem Drittel.) Auch stieg der Wertschöpfungsbeitrag des Finanzsektors in den letzten 10 bis 15 Jahren stark an. Das spiegelt zunächst nur einen Strukturwandel wider und ist nicht per se schlecht: Auf dem Weg zur
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