Das kritische Finanzlexikon
trägt die Bank eine Beweislast. Der Kunde muss lediglich die Höhe seines Guthabens beweisen, und dazu reicht die Vorlage des alten Sparbuches.
Dem Mann stand im Endeffekt ein Guthaben von etwa 300 000 Euro zu. Die Einzahlung von umgerechnet 54 000 Euro aus dem Jahr 1959 hatte sich durch Zinsen und Zinseszinsen in knapp 50 Jahren nahezu um das Sechsfache erhöht.
Kreditinstitute mögen in Sachen Zinsen noch so aufgeschlossen sein – wenn der durch Zinseszinsen entstehende Exponentialeffekt zu ihrem Nachteil zuschlägt, sind sie nicht so begeistert.
Das bekannteste Beispiel für die ungeheure Wucht des Zinseszinseffektes ist der durch den englischen Moralphilosophen Richard Price im 18. Jahrhundert erwähnte Josephspfennig. Hätte Joseph von Nazareth im Geburtsjahr seines Sohnes einen einzigen Cent verzinslich angelegt, so ergäbe sich heute, sofern das Geld regelmäßig Zinsen und Zinseszinsen erbracht und niemals angerührt worden wäre, eine unvorstellbar hohe Summe. Selbst bei einer jährlichen Verzinsung von (verhältnismäßig bescheidenen) 2 Prozent hätte man heute ein Guthaben von mehr als 2 000 Billionen Euro. Das ist etwa das Zehnfache dessen, was die globale Finanzwelt an Vermögen auf sich vereinigt, und das 28-Fache des Weltbruttoinlandsprodukts. Dies wäre trotzdem geradezu bescheiden gegenüber dem Effekt, der sich im Falle einer Verzinsung von 5 Prozent pro Jahr ergäbe. Aus Josephs Cent würde eine 43, gefolgt von 39 Nullen. (Würde man 1 600 Billionen ausschreiben, hätte man nur 12 Nullen.)
Preisfrage: Welches Ergebnis käme heraus, wenn man Zinsen auf ein Kapital von einem Cent für einen Zeitraum von 2 000 Jahren ohne Zinseszinseffekt berechnen würde? Das Ergebnis ist ernüchternd. Bei einem Zinssatz von 2 Prozent hätte man heute 0,41 Cent, bei 5-prozentiger Verzinsung käme man knapp über einen einzigen Euro.
Der Zinseszinseffekt bringt uns ins Grübeln. Nachdenken sollten wir allerdings nicht nur über die explosionsartige Vermehrung von Anlagesummen, sondern auch über unser Wachstumsdogma. Mit dem verhält es sich genauso.
Wir erwarten eine regelmäßige und kräftige Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (→ BIP ). Der sich jeweils ergebende neue Wert bildet dann die Basis, also den Grundwert für die nächste Steigerungsrate. Je höher der Grundwert ist, desto stärker wirkt sich die Erhöhung in absoluten Zahlen, also zum Beispiel in einer Recheneinheit wie Euro, Dollar etc., aus. Und umgekehrt bringt auch eine hohe prozentuale Wachstumsrate bei einem geringen Grundwert keinen nennenswerten absoluten Betrag hervor. Im Jahre 1950 wurde in der kurz zuvor gegründeten Bundesrepublik Deutschland ein Bruttoinlandsprodukt von 50 Milliarden Euro erwirtschaftet. Inzwischen sind wir bei 2 650 Milliarden Euro angelangt. In den 1950er Jahren, so wissen wir alle, begann das Wirtschaftswunder. 1951 verzeichnete man zum Beispiel ein preisbereinigtes (reales) Wachstum von fast 10 Prozent, also 5 Milliarden Euro. Würde man diese Steigerungssumme auf unser heutiges Niveau übertragen, hätten wir (5 : 2 650) * 100 = 0,2 Prozent reales Wachstum – ein Ergebnis, das allgemein auf große Enttäuschung und Unzufriedenheit stieße. Umgekehrt würde ein aktuelles reales BIP-Wachstum von (heute nahezu unvorstellbaren) 10 Prozent unser Bruttoinlandsprodukt um 265 Milliarden Euro steigern, also mehr als dem Fünffachen dessen, was 1950 insgesamt erwirtschaftet wurde.
Mit dem gleichen Phänomen konfrontiert uns der Josephspfennig. Um bei einer jährlichen Verzinsung von 2 Prozent auf einen Euro anzuwachsen, benötigt er 233 Jahre. Die Vermehrung um 900 000 Euro, von 100 000 Euro auf eine Million, schafft er in 117 Jahren. Und wenn das Vermögen den Wert von 100 Millionen Euro erreicht hat, kommen weitere 10 Millionen in knapp fünf Jahren hinzu.
Auf den Grundwert, anders formuliert: auf das Niveau, welches zu einem bestimmten Zeitpunkt existiert, kommt es an. Unser aktuelles Niveau ist sehr, sehr hoch; wir sollten uns daher weniger Gedanken darüber machen, wie wir unser Bruttoinlandsprodukt immer weiter steigen könne, sondern vielmehr Verteilungsfragen in den Fokus unserer Betrachtung stellen. Dabei geht es nicht nur um → Ungleichheit in materieller, sondern auch in sozialer und gesellschaftlicher Hinsicht.
Der Problematik des Zinseszinseffektes trägt auch das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) Rechnung. In § 248, Absatz 1, des BGB heißt es:
Eine im Voraus getroffene Vereinbarung, dass fällige
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