Die verschwundene Lady (German Edition)
1. Kapitel
»Warum darf ich denn nichts über deinen Geliebten wissen, Mutter ?«, fragte die hübsche zwanzigjährige Anne Carmichael.
Mrs. Carmichael, eine zierliche Frau mit einem Teint wie eine Porzellanpuppe, schaute die Tochter über die chinesische Teetasse hinweg an.
»Ich habe Henry versprochen, allen gegenüber Stillschweigen zu bewahren. Dieser Mann hat meinem Leben erst wieder einen Sinn gegeben. Ich schwebe wie auf Wolken. Die Jahre s eit dem frühen Tod deines Vaters, Anne, waren grau und öde. Doch dann ist er in mein Leben getreten.«
»Henry?«
»Ja. Ach, habe ich seinen Namen doch erwähnt. Nun, bei dem Vornamen soll es auch bleiben. Es darf niemand von unserer Liebe erfahren. Noch nicht. Es ist so schön und romantisch. Wir treffen uns heimlich im Park und in abgelegenen Landgasthöfen. Mein ganzer Körper prickelt und brennt, wenn ich nur an ihn denke. Was für ein Mann!«
Anne war befremdet. Sie hatte ihre Mutter an dem Oktobernachmittag in Marion Carmichaels schöner Maisonettewohnung an der Park Road direkt am Regent’s Park aufgesucht. In dem Zimmer mit den pastellfarbenen Seidentapeten war es hell und warm. Draußen kroch schon der Londoner Herbstnebel durch die Straßen. Die trübe, neblige Jahreszeit hatte begonnen.
Anne hatte schon seit einiger Zeit gemerkt, dass mit ihrer Mutter etwas nicht in Ordnung war. So nannte die blonde Medizinstudentin es. Anne war in ihrer Art mehr nach ihrem Vater geschlagen. Über mittelgroß, sportlich, ein Freilufttyp, bevorzugte sie sportliche Kleidung und war weltoffen und kontaktfreudig.
In ihrem Gesicht fielen die gerade Nase besonders auf, die von Willensstärke kündete, und die strahlend blauen Augen. Annes Lachen nahm jeden gefangen. Jetzt lachte sie aber nicht. Ihre Mutter war zwanzig Jahre älter als sie und seit sechs Jahren verwitwet, als Annes Vater, ein vielbeschäftigter Arzt, plötzlich und ohne Vorwarnung in seiner Praxis einem Herzschlag erlegen war.
Mrs. Carmichael hatte danach kein Interesse gezeigt, sich wieder zu verheiraten, ja, von Männern überhaupt keine Notiz genommen, was die Liebe betraf. Dieses Kapitel schien für sie in ihrem Leben abgeschlossen zu sein.
Bis Anne, die ihre Mutter regelmäßig besuchte, bei ihr diverse Veränderungen bemerkte. Mrs. Carmichael kleidete sich jugendlicher. Sie änderte ihre Frisur. Manchmal, wenn Anne sie anrief, meldete sie sich atemlos und mit einem Klang in der Stimme, als ob sie einen ganz anderen Anruf erwartet hätte.
Mrs. Carmichael hatte auch öfter keine Zeit für Anne gehabt, oder war nicht zu erreichen gewesen. Heute nun hatte sich Anne nicht länger mit Ausflüchten abspeisen lassen, sondern von ihrer Mutter eine klare Auskunft verlangt.
Sie fiel jedoch nicht so aus, wie sich Anne das gedacht hatte.
»Aber Mutter«, versuchte sie es noch einmal. »Ich finde es herrlich, dass du dich wieder verliebt hast, und ich gönne dir dein Glück ganz bestimmt. Ich bin noch nie der Ansicht gewesen, du solltest den Rest deines Lebens dem Andenken meines Vaters widmen. Du bist schließlich noch jung.«
»Ich bin vierzig.«
»Das ist doch kein Alter. Mit vierzig fängt das Leben erst richtig an.«
»Vielleicht für eine Meeresschildkröte, die bekanntlich drei-, vierhundert Jahre alt werden kann. Für eine Frau nicht unbedingt.«
»Das sind doch die besten Jahre im Leben.«
»Wenn die besten kommen, sind die guten vorbei.«
»Sei nicht so sauertöpfisch, Mutter.«
»Worauf willst du hinaus, Anne. Ich kenne dich lange genug. Mich kannst du nicht täuschen. Also?«
Anne sah, dass ihre Mutter sie durchschaut hatte.
»Also, ich finde es nicht richtig von dir, dass du aus dem Namen deines Geliebten ein solches Geheimnis machst. Du brauchst es ja nicht an die große Glocke zu hängen. Doch mir als deiner Tochter könntest du schon reinen Wein einschenken.«
Mrs. Carmichael zögerte. Anne würde ernsthaft verärgert sein, wenn sie ihr alles verschwieg.
»Kind«, sagte sie, und wurde von Anne sofort unterbrochen: »Ich bin längst kein Kind mehr!«
»Manchmal schon«, sagte Mrs. Carmichael darauf. »Meine Zurückhaltung hat gute Gründe. Henry ist Mitglied des Hochadels. Ein Lord, wenn du es genau wissen willst.« Mrs. Carmichael war sichtlich stolz, dass sich eine so hochgestellte Persönlichkeit für sie interessierte. Man konnte es betrachten, wie man es wollte, ein Lord war nicht irgendwer. »Henry muss wegen seiner laufenden Scheidung Rücksicht nehmen. Er ist derzeit noch
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