Das Labyrinth erwacht: Thriller (German Edition)
Stockwerken und vielleicht aufs Dach. Eine Sackgasse.
Schwacher Lichtschein drang nach oben. León hörte das Quietschen der Tür. Stiefel trampelten.
Dann plötzlich Ruhe.
Kein einziges Geräusch.
Nicht einmal Marys Atem war zu hören.
León griff nach ihrer Hand. Er spürte die weiche Haut ihrer Finger, die Wärme, die sie ausstrahlten. Noch nie war er einem anderen Menschen so nahe gewesen. Das Gefühl verwirrte ihn.
Sie warteten.
Irgendwann sagte León leise: »Komm.«
Und sie schlichen in die Nacht hinaus.
Kathy rannte, wie sie noch nie gerannt war. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln und die Gebäude flogen wie Schatten an ihr vorbei. Zunächst lief sie die Hauptstraße entlang, damit ihre Verfolger ihr leichter nachkommen konnten, dann bog sie in eine dunkle Gasse ab. Dort steckte sie die brennende Fackel in den Schnee, die mit einem leisen Zischen ausging. Ihr reichte das bleiche Licht des Mondes, um sich zu orientieren.
Kathy jagte die schmale Straße hinunter. An der nächsten Ecke blieb sie stehen und schaute zurück. Ihr Atem kam stoßweiße in kleinen weißen Wolken. Von ihren Verfolgern war noch nichts zu sehen oder zu hören, aber sie konnte sich nicht sicher sein, dass sie allein war, denn die Männer kannten vielleicht Abkürzungen, von denen sie nichts ahnte.
Kathy blickte sich um. Es gab einige Häuser und Gebäude, in die sie flüchten könnte, aber sie alle standen einzeln und hatten keine Verbindung zueinander. Wenn sie einmal drin war, gab es keinen Weg mehr hinaus. Sie würde in der Falle sitzen. Anderseits konnte sie nicht mehr lange auf der Straße bleiben. Den Männern mochte sie vielleicht davonlaufen, nicht aber dem Hund, der vermutlich längst ihre Spur aufgenommen hatte.
Kathy lauschte in die Nacht. Kein Bellen, aber das musste nichts heißen. Sie atmete noch einmal tief ein und aus. Die beißende Kälte brannte wie Feuer in ihren Lungen, aber Kathy drängte alle Gedanken an Schmerz zurück. Sie rannte weiter. Vor ihrem inneren Auge sah sie Tians Sturz in die Schlucht. Der Augenblick seines Todes. Den sie bestimmt hatte.
Ich habe nie etwas für andere getan. Ich war mir immer selbst das Wichtigste. Und wohin hat es mich geführt? In eine eisige, beschissene Welt. Aber vielleicht ist das ja auch die gerechte Strafe. Mein ganzes Leben habe ich verpfuscht. Nicht erst hier, schon viel früher. Und die, die mich jetzt jagen, werden all das rächen.
Ihre Flucht führte sie nun über eine große Kreuzung. Hier war die Schneedecke dünner, stellenweise vom Wind sogar ganz abgetragen. Der Boden unter ihren Füßen war sehr rutschig. Kathy schlingerte gleich mehrmals, aber jedes Mal gelang es ihr, sich wieder zu fangen. Dann stolperte sie über eine im Boden versenkte Metallschiene. Ihr rechter Fuß verkantete sich. Für einen winzigen Augenblick lag ihr Körper fast waagerecht in der Luft, dann krachte Kathy mit voller Wucht auf den harten Untergrund. Die Luft wurde ihr aus der Lunge gepresst. Vor ihren Augen tanzten schwarze Flecken, die für einen Moment lang alles überdeckten.
Kathy war zum Glück noch bei Bewusstsein, aber alles tat ihr weh, besonders die rechte Hand, mit der sie versucht hatte, sich abzufangen. Ihr Rücken fühlte sich an, als wäre er in zwei Teile zerschlagen. Die Schmerzen raubten ihr den Atem. Kathy jaulte auf, als sie versuchte, sich aufzurichten.
Du musst hoch. Hoch auf deine Beine. Lauf weiter. Sonst kriegen sie dich.
Sie wälzte sich auf ihre linke Körperseite und versuchte erneut, sich hochzustemmen. Dabei biss sie sich auf die Backe, sodass es blutete. Sie stemmte sich mit dem linken Arm vom Boden hoch, zog die Beine an, endlich hockte sie auf den Knien und befühlte ihre Gliedmaßen. Nichts gebrochen. Auch ihre rechte Hand schien nur geprellt zu sein. Der Schmerz pulsierte durch ihre rechte Körperhälfte. Doch egal, wie viele Schmerzen sie hatte, dafür war jetzt keine Zeit. Sie stützte sich mit der linken Hand ab und richtete sich langsam auf. Als sie endlich gekrümmt dastand, entwich ihr angehaltener Atem mit einem Keuchen.
Kathy fühlte in einer zur Gewohnheit gewordenen Geste nach dem Messer an ihrem Hosenbund.
Das Messer. Es ist weg!
Es musste ihr beim Sturz aus der Hand geglitten sein.
Verdammt, ohne das Messer war sie vollkommen wehrlos. Sie suchte fieberhaft den Boden ab, doch im blassen Lichtschein waren nur Schatten auszumachen.
Ich muss weiter. Keine Zeit, das Messer zu suchen. Aber ich brauche es doch, wie soll ich
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