Das Labyrinth erwacht: Thriller (German Edition)
mich sonst verteidigen?
Da zerriss plötzlich das Bellen eines Hundes die klare Luft. Es klang sehr nah. Das Biest würde jeden Augenblick um die Ecke jagen.
Sie brauchte das Messer. Und zwar sofort.
Ihr Blick blieb an etwas Glänzendem im Schnee hängen.
Sie ging einen Schritt darauf zu.
Da flog ein Schatten heran.
León sah Kathys Abdrücke deutlich im Schnee. Das fast neue Profil ihrer Stiefel unterschied sich deutlich von den glatten Sohlen ihrer Verfolger. Kathy war geradeaus, die Hauptstraße entlanggerannt, ihre Verfolger schnurstracks hinterher.
Im Schnee waren auch Pfotenabdrücke zu sehen. Verdammt, Kathy hatte keine Chance. Dieser Verfolger ließ sich nicht täuschen, nicht abschütteln.
Viel Glück, dachte er und sah zum Himmel. Der Stern lag in derselben Richtung, in die Kathy geflohen war, aber es war zu gefährlich, ihm auf direktem Weg zu folgen. Ihre Jäger konnten jederzeit umkehren, dann würden sie ihnen direkt in die Arme laufen. Er zog Mary mit sich in eine Seitenstraße, die nach zweihundert Metern in eine Parallelstraße zur Hauptstraße mündete. Dort bog er rechtwinklig ab.
Neben ihm stapfte Mary stumm durch den Schnee. Sie hatte noch kein Wort gesagt, hatte wie immer alles schweigend über sich ergehen lassen. Sicherlich war sie in Gedanken wie er bei Kathy, die um ihr Leben rannte, um sie zu retten. León hatte die Rothaarige nicht ausstehen können, aber er war ihr dankbar. Auch wenn er nicht verstand, warum sie all das für Mary und ihn tat.
Ist schon seltsam, erst versucht sie, Mary umzubringen, jetzt setzt sie ihr Leben für sie aufs Spiel.
Für ihn zählte allein, dass Mary frei war und neben ihm in Richtung der Tore ging. Er spürte ihre Hand in seiner. Es war ein ungewohntes Gefühl, das seinen Arm hinaufkroch, es fühlte sich richtig an. So als wäre ihre Hand schon immer dort gewesen.
León dachte nicht weiter darüber nach, warum Marys Berührung diese Wirkung auf ihn hatte. Er hatte das nächste Ziel vor Augen. Die Nacht war klar und der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, er war unendlich müde, und doch hätte er ewig so weitergehen können. Endlich spürte er so etwas wie Frieden in sich. Ein ganz und gar unbekanntes Gefühl. Er wusste, dieses Gefühl war trügerisch, denn sie beide schwebten noch immer in Gefahr, aber der Moment war alles, was zählte. Doch plötzlich entzog Mary ihm seine Hand. Erstaunt blickte er zu ihr hinüber. Sie hatte ihren herausfordernden Gesichtsausdruck aufgelegt, den, bevor sie wütend wurde.
»Warum hat Kathy das getan?«
Er blieb stehen, sah sie an, doch ihr Gesicht blieb im Schatten des Mondlichts verborgen. »Ich weiß nicht. Ist das wichtig? Sie hat es einfach getan, mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
»Für mich ist es schon wichtig. Ich will ihr nichts schuldig sein.«
Innerlich kochte Wut in León hoch. Wieso konnte es nicht ein einziges Mal einfach sein? »Kathy opfert ihr Leben für deins.«
»Ich hab sie nicht darum gebeten.«
»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«
Mary hob neben ihm leicht den Kopf, doch er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen. »Vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden hat sie versucht, mich umzubringen. Sie hat Tian getötet. Soll ich das alles vergessen?«
»Nein, aber anerkennen, was sie getan hat.«
»Das fällt mir schwer.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und sah ihm fest in die Augen. »Aber ich danke dir, dass du gekommen bist, um mich zu retten. Warum tust du das immer wieder?«
León wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Verlegen wich er ihrem Blick aus.
Wie kann ich erklären, was ich selbst nicht verstehe? Ich…
»Hab ich was Falsches gesagt? Keine Sorge, ich werde dich schon nicht vor lauter Dankbarkeit küssen. Das passt nicht zu uns beiden, aber ich danke dir. Von Herzen.«
Die Worte schnitten wie ein Messer in seine Seele. Er wusste nicht, woher dieser Schmerz kam, und konnte sich nicht erklären, warum ihn Marys Worte so enttäuschten. Warum er sie gerettet hatte. Ja, warum?
Es war ihm sofort klar gewesen, dass er es tun musste. Nach dem Warum hatte er nicht gefragt. Er hatte sich eingeredet, dass Mary ihre Hoffnung auf ihn setzte und dass er diese Hoffnung nicht enttäuschen wollte. Aber jetzt fühlte er, dass er sich getäuscht hatte. Mary würde ihm nie auf Augenhöhe begegnen und immer noch empfand sie anscheinend höchstens Abscheu für ihn. Sie hatte es ihm in der Ebene offen genug gezeigt und ihn ihre Verachtung spüren lassen. Wie hatte er
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