Das Labyrinth erwacht: Thriller (German Edition)
Schlafplatz liegen lassen.
Mary schaute sich um und stellte fest, dass Kathy fehlte. Ausgerechnet Kathy, der sowieso nicht über den Weg zu trauen war. Mary ahnte, dass das andere Mädchen sie bisher nur aus einem einzigen Grund in Ruhe gelassen hatte: Weil sie so schwach war. Weil sie keine Gefahr bedeutete und für Kathy ein zu vernachlässigendes Übel war. Und wahrscheinlich ging es den anderen genauso.
Sollen sie doch denken, was sie wollen.
Mary stand auf, streckte sich und spazierte dann zum Bach, um sich zu waschen.
Noch immer plagte sie die Frage nach der Vergangenheit. Woher komme ich? Aber da waren keine Antworten in ihr, nur beunruhigende Bilder. In diesen Bildern war sie noch klein, ein zierliches Mädchen, das in seinem Bett lag und sich fürchtete. Nein, nicht vor der Dunkelheit. Nicht vor den Monstern im Schrank.
Sie fürchtete sich davor, dass die Tür aufging und sein Schatten mit dem Lichtschein in ihr Zimmer fiel.
Aber wer war er? Sie hatte sich gerade auf einen der großen Steine am Wasser niedergelassen, als sie Kathy entdeckte. Zuerst bemerkte sie nur ihre Haare. Rot schimmerten sie im fahlen Licht. Seltsam verdreht lag sie da und doch sah es so aus, als würde sie nur schlafen. Mit einem Satz sprang Mary über das Bachbett und lief zu Kathy, die leblos wie eine Wachspuppe wirkte.
Als sie näher heran war, stellte sie fest, dass Kathy keineswegs schlief. Nein, ihre Augen waren weit geöffnet und ihre Lippen bewegten sich unablässig in einem tonlosen Flüstern.
»Kathy?« Mary zögerte, das andere Mädchen zu berühren. Doch dann nahm sie allen Mut zusammen und rüttelte sie an der Schulter. »Kathy, alles okay mit dir?«
Das rothaarige Mädchen schien von weit her zurückzukommen. Ihre grünen Augen bohrten sich in ihre – da bemerkte Mary das Messer, das Kathy in der einen Hand hielt. Erschrocken wich sie zurück. Wieso hat sie ein Messer? León hat doch das einzige, hatte er es ihr gegeben?
Kathy war ihrem Blick gefolgt und mit einem Satz auf den Beinen. Sie starrte sie feindselig an, der seltsam entrückte Gesichtsausdruck war sofort verschwunden.
Nein, sie hat von Anfang an eines gehabt, es aber vor uns versteckt.
»Kathy, was –«
Das Messer bedrohlich vor sich herschwingend, bewegte sich Kathy langsam auf sie zu. »Mary, kleine Mary. Du denkst, dass du überleben wirst, wenn du dich nur klein genug machst. Aber jetzt haben wir ein kleines Geheimnis, du und ich. Hm?« Kathy lächelte sie herablassend an. »Wenn du den anderen irgendwas hiervon erzählst, wie du mich gefunden hast – oder von dem Messer«, Mary konnte nicht anders, sie fixierte die Klinge, die Kathy ihr nun direkt ins Gesicht hielt, »dann werde ich persönlich dafür sorgen, dass du das alles hier nicht überlebst.«
Mary nickte stumm, sie konnte ihre Augen nicht von dem Messer lösen, das Kathy aber unvermittelt einklappte und in einer Tasche ihres Hemdes verschwinden ließ. Und als Mary es endlich wieder wagte, vom Boden aufzublicken, war Kathy verschwunden.
Nachdem die Jugendlichen am frühen Morgen ihre Wasserflaschen aufgefüllt und sich am Bach notdürftig gewaschen hatten, verließen sie das Wäldchen und marschierten aufs Neue ins weite Land hinaus. Ein glühender Wind jagte über die Ebene. Da in der Morgendämmerung der Stern am Himmel gefunkelt hatte, wussten sie, in welcher Richtung ihr Ziel lag. Auf die weit entfernt liegenden Berge, die sich hinter den Wolken kaum noch abzeichneten, hielten sie nun zu.
Alle waren in düsteren Gedanken gefangen. Das Tageslicht war gedämpft und sie spürten, dass die Bedrohung durch das, was im Dunkeln auf sie lauerte, greifbarer geworden war. Die Schonzeit war vorbei. Ihre Haut kribbelte und die Haare im Nacken stellten sich auf, als sie das erste ferne und heisere Heulen vernahmen. Ihre Jäger waren wieder da.
Niemand in der Gruppe sprach ein Wort oder kommentierte das neuerliche unüberhörbare Kreischen. Sie gingen Jeb mit hängenden Köpfen in einer Reihe hinterher, ohne auch nur aufzuschauen. Kathy bildete den Schluss.
Jeb versuchte, ein hohes Tempo zu halten, ohne dass die Kette der Jugendlichen zerriss. Einige Male hatte er den Verdacht, Kathy würde sich von ihnen absondern, da sie immer wieder einige Schritte hinter ihnen stehen blieb und hektisch hinter sich den Horizont absuchte, wenn sie glaubte, dass es niemand bemerkte. Schon am Morgen vor ihrem Aufbruch hatte sie seltsam unruhig gewirkt, nicht so kontrolliert wie sonst. Eine grenzenlose
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