Das Labyrinth erwacht: Thriller (German Edition)
zuerst sterben würden –, brauchte sie jemanden, der für sie kämpfte, der andere tötete, damit sie leben konnte.
Aber wer?
Tian?
Zu empfindlich. Kein geborener Anführer. Wenn es hart auf hart kommen sollte, würde er wahrscheinlich zu heulen anfangen.
Mischa?
Möglicherweise. Er sah gut aus, wirkte selbstbewusst und Kraft schien er auch zu haben, aber Kathy ahnte, es würde nicht leicht sein, an ihn heranzukommen.
Blieb noch León.
Die Katze. Der ideale Partner, wenn er nicht so ein verfluchter Einzelgänger wäre. Er gehorchte niemandem, war schlau, kampfbereit und kompromisslos. Sich ihn gefügig zu machen, schien ein Ding der Unmöglichkeit, aber vielleicht sollte sie es trotzdem versuchen.
Allerdings, wenn sie es wirklich so weit schafften, dass nur noch sie beide übrigen waren, würde León sie fallen lassen oder töten, das wusste sie. Er kannte keine Gnade.
Blieb nur Mischa.
Sie seufzte.
Plötzlich hörte sie etwas. War da nicht ein Rascheln gewesen? Da war es schon wieder. Nun knackte es im Unterholz. Kathy zog mit einem Ruck ihre Füße aus dem Wasser und war mit einem Satz in der Hocke. Sprungbereit. Sie kauerte sich neben einen der hohen Farne, die den Bach säumten. Angestrengt blickte sie in die tiefschwarze Nacht, die sich vor ihr auftat.
Während ihrer Rast am Nachmittag hatte sie gesehen, dass sich das Wäldchen jenseits des Flusses höchstens noch zwanzig Meter weiter erstreckte. Dahinter lauerte die endlose Weite der Grasebene. Was auch immer Mischa überfallen hatte, wartete auf der anderen Seite des Baches auf sie. Das Feuer war zu weit weg, als dass es sie jetzt noch erreichte – und der Mond warf in diesem undurchdringlichen Gestrüpp mehr Schatten als Licht. Jetzt hörte sie etwas. Unverkennbar. Stolpernde Schritte. Jemand – oder etwas? – kam direkt auf sie zu. Sie hörte ein Keuchen, oder war es ihr eigener Atem gewesen? Sie hielt die Luft an. Stille. Kathy war bereit, sich auf den Eindringling zu stürzen, wenn er auf der anderen Seite des Baches auftauchte. Oder stand er womöglich bereits dort? In der Dunkelheit war die Schwärze undurchdringlich.
»Kathy, Kathy, bitte hilf mir!« Es war kaum mehr als ein Flüstern gewesen und doch schien es ohrenbetäubend. Diese Stimme, sie kannte sie. Sie kannte sie gut. War das etwa…
»Liz?« Kathy versuchte, sich aufzurichten, doch ihr Körper war mit einem Mal wie gelähmt. Versteinert. Sie kannte diese Stimme besser als ihre eigene. Dieser Stimme hatten alle zugehört, während sie Kathy als lästiges Anhängsel bezeichnet hatten. Kathy kannte… nein, sie hasste diese Stimme. Sie hasste Liz.
Alle hatten nur Augen gehabt für SIE. Liz. Ihre schöne Schwester. Denn Liz war wie die Sonne. Anbetungswürdig wie eine Göttin. Und ausgerechnet Liz war dort draußen irgendwo. Rief nach ihr. Um Hilfe. Dabei war sie, Kathy, es gewesen, die Liz alles genommen hatte. Alles. Kathy erwachte nun vollends zum Leben. Sie lächelte. Niemand war hier, der ihre Schwester beschützte. Kathy tastete mit fliegenden Fingern nach dem Messer, das sie im Innensaum ihres Hemdes verborgen hatte.
»Liz, wo bist du?« Leise erhob sie sich. Um sie herum war noch immer alles schwarz.
»Hier drüben, Kathy, hilf mir, bitte!« Kathy sackte fast im Bach zusammen, so eiskalt war das Wasser. Es schien dickflüssiger als noch vor einem Moment. Doch Kathy ignorierte den Schmerz und die emporkriechende Taubheit in ihren Beinen. Den nächsten Schritt setzte sie sicher ans andere Ufer.
Ja, sie war ein böses Mädchen. Endlich war die Zeit der Abrechnung gekommen. Diesmal würde sie Liz auch noch das Letzte nehmen, was ihr geblieben war.
14.
Der nächste Morgen brachte dunkle Wolken, wie ein graues Tuch bedeckten sie den Himmel. Es schien gar nicht richtig hell werden zu wollen. Aber trotzdem verhießen sie keinen Regen, das spürte Mary, denn schon jetzt war es unbarmherzig heiß und schwül, aus dem Boden stieg eine dumpfe Feuchtigkeit auf und machte ihre Kleidung klamm.
Mary drehte sich zum Feuer, das längst erloschen war. Die anderen schliefen noch oder taten zumindest so. Mit bleiernen Gliedmaßen setzte sie sich auf. Der lange Marsch gestern hatte sie fast alle Kräfte gekostet. Unglaublich, dass sie es bis hierher geschafft hatte. Aber was wird uns heute erwarten?
Ihre Augen wanderten rastlos über die kleine Lichtung, da bemerkte sie den leeren Schlafsack. Offenbar war schon jemand vor ihr aufgestanden und hatte seine Klamotten achtlos neben dem
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