Das Lächeln der Sterne
den wenigen anderen, die im Laufe der Jahre gegen Paul Flanner angestrengt worden waren, mit dem einzigen Unterschied, dass Paul in diesem Fall – zwei Monate lag das nun zurück – einen persönlichen Brief von Robert Torrelson erhalten hatte.
Er kannte den Wortlaut, ohne den Brief vor sich zu haben.
Sehr geehrter Dr. Flanner,
ich möchte mit Ihnen persönlich sprechen. Es ist mir sehr wichtig. Bitte.
Robert Torrelson
Unten auf die Seite hatte er seine Adresse geschrieben.
Nachdem Paul den Brief gelesen hatte, zeigte er ihn seinen Anwälten, die ihn bedrängten, die Bitte zu ignorieren. Auch seine früheren Kollegen im Krankenhaus rieten ihm das. Es sei besser, den Brief nicht zu beachten, sagten sie. Wenn das Ganze vorbei sei, könnten sie immer noch ein Treffen vereinbaren, falls Torrelson es wolle.
Aber die schlichte Bitte mit Robert Torrelsons ordentlicher Unterschrift hatte Paul berührt, und er beschloss, den Ratschlägen seiner Kollegen nicht zu folgen.
Er war zu dem Schluss gekommen, dass er schon zu viel Menschliches im Leben nicht beachtet hatte.
Paul zog das Jackett an, verließ das Haus und ging zu seinem Wagen. Er nahm die Ledertasche mit seinen Papieren vom Beifahrersitz, ging jedoch nicht wieder ins Haus, sondern seitlich daran vorbei.
Auf der Strandseite pfiff ein kalter Wind. Paul blieb stehen und zog sich den Reißverschluss an seiner Jacke zu. Er klemmte sich die Ledermappe unter den Arm, steckte die Hände in die Taschen und senkte den Kopf. Auf seinen Wangen spürte er die Brise.
Der Himmel erinnerte ihn an den in Baltimore vor einem Schneesturm, der die Welt in verschiedene Töne von verwaschenem Grau tauchte. In der Ferne sah er einen Pelikan tief über das Wasser gleiten. Die Flügel bewegungslos ausgestreckt, ließ er sich vom Wind tragen. Paul fragte sich, wo der Vogel Schutz suchen würde, wenn der Sturm seine ganze Kraft entfaltete.
Am Wasser blieb Paul stehen. Die Wellen rollten aus zwei Richtungen heran und bildeten dort, wo sie zusammenprallten, Schaumkronen. Die Luft war feucht und kühl. Paul blickte über die Schulter zurück und sah das gelbe Licht in der Küche der Pension und Adriennes Gestalt, die wie ein Schatten am Fenster vorbeihuschte und dann aus seinem Blick verschwand.
Am nächsten Morgen würde er versuchen, mit Robert Torrelson zu sprechen. Der Sturm war für den Nachmittag angekündigt und würde wahrscheinlich das ganze Wochenende über toben, also konnte Paul Torrelson dann nicht aufsuchen. Aber er wollte auch nicht bis Montag warten. Sein Flug ging am Dienstagnachmittag von Dulles, und er durfte nicht später als neun in Rodanthe aufbrechen.
Paul war noch nie in Rodanthe gewesen, aber er glaubte, dass er nicht lange brauchen würde, um Torrelsons Haus zu finden. Die Stadt, so vermutete er, bestand aus nicht mehr als einem Dutzend Straßen, so dass er den Ort in kurzer Zeit der Länge nach durchmessen könnte.
Paul drehte sich um und ging wieder zum Haus. In dem Moment sah er noch einmal Adriennes Schatten am Fenster.
Es war ihr Lächeln. Ihr Lächeln gefiel ihm.
Am Fenster stehend beobachtete Adrienne, wie Paul Flanner vom Strand wieder zum Haus kam.
Sie war dabei, die Lebensmittel auszupacken, und versuchte, sie in den richtigen Schränken zu verstauen. Am frühen Nachmittag hatte sie eingekauft, was Jean aufgeschrieben hatte, doch jetzt fragte sie sich, ob sie hätte warten sollen, bis Paul eingetroffen war. Womöglich hatte er irgendwelche speziellen Wünsche.
Sein Besuch beschäftigte sie. Jean hatte ihr erzählt, er habe vor sechs Wochen angerufen und sie habe ihm gesagt, dass die Pension von Neujahr bis April geschlossen sei. Darauf habe er ihr angeboten, den doppelten Zimmerpreis zu bezahlen, wenn sie die Pension eine Woche länger geöffnet lassen würde.
Er machte keine Ferien, dessen war sie sich sicher. Nicht nur, weil Rodanthe im Winter kein beliebtes Ferienziel war, sondern auch, weil Paul Flanner nicht der Typ zu sein schien, der gern Urlaub machte. Bei der Anmeldung hatte er sich zudem nicht verhalten wie jemand, der ein paar Tage Ruhe und Erholung suchte.
Da er jedoch auch nicht davon gesprochen hatte, dass er Verwandte besuchen wollte, war er vermutlich geschäftlich hier. Doch auch das ergab keinen Sinn. Abgesehen von der Fischerei und dem Tourismus gab es keine Wirtschaftsunternehmen in Rodanthe, und ohnehin waren die meisten Geschäfte während des Winters geschlossen – außer denen natürlich, die die Versorgung der
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