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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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unmißverständlich, aber zugleich las er etwas darin, das ihn auf Distanz halten wollte, jedenfalls noch ein Weilchen. Seine Finger bewegten sich zitternd um ihre Gestalt, doch noch immer wagte er es nicht, sie zu berühren. Und es wäre so leicht gewesen, sie zu packen und zu nehmen. Nein, begriff er, es war gar nicht leicht: Sie zwang ihn mit einem Blick, mit einem Lächeln, Abstand zu wahren. Sie zwang ihn zu warten. Das war neu für ihn, dieses Wartenmüssen, dieses Hinausschieben, bis zum richtigen Augenblick. Aber er hatte auch noch nie zuvor ein Weib wie sie getroffen.
    Es muß Zauberei dabei sein, dachte Enkidu. Wie sonst konnte sie eine solche Macht über ihn haben? Sie mußte ihn verhext haben.
    Sie sagte: »Ich war einst die Gemahlin eines Königs, dessen Bruder ein noch mächtigerer König war, und daraus erwuchs ein unendlicher Ärger. Aber das ist schon recht lange her. Weißt du, wer ich bin?«
    »Dein Name ist Helena.«
    »Ja. Die Helena von Troja.«
    »Ich bitte um Vergebung. Vielleicht müßte ich deinen Namen kennen, aber ich muß gestehen…«
    »Ah, du bist einer von den Frühen Toten?«
    »Selbstverständlich.«
    »Aus Ägypten? Assyrien?«
    »Aus Sumer-dem-Land, Herrin. Zwischen den Strömen Idigna und Buranunun gelegen.«
    »Sprichst du die griechische Sprache?«
    »Ich konnte es einst, glaube ich. Aber es ist lange her seitdem.«
    »Macht nichts«, sagte sie. »Du mußt schon sehr alt sein. Du weißt vom Trojanischen Krieg, ja?«
    Enkidu überlegte kurz. »Alles weht so durcheinander.
    Aber ja, richtig, der Krieg Homers, meinst du den damals? Achilles, Agamemnon…«
    »Ich war die Frau von Agamemnons Bruder, Menelaos. Und der Anlaß zum Krieg war ich. Jedenfalls behaupten das die Leute oft genug, aber andere sagen, es ging dabei um Handelsinteressen und Handelswege. Aber ich weiß, daß es natürlich meinetwegen war, weil ich meinen Mann, den König, sitzen gelassen hatte, um im Land der Trojaner zu leben, wohin mich Paris, der damals mein Geliebter war, entführt hatte, und Menelaos wollte diese Schmach nicht auf sich sitzen lassen, und sein Bruder, Agamemnon, ebenfalls nicht.«
    »Ach wirklich? Hm«, sagte Enkidu.
    O ja, das konnte er schon verstehen, daß einer wegen der Frau da einen Krieg anzettelte. Diese Augen, diese Haut, das Haar, schwarz wie eine mondlose Nacht, ihr Glühen, das er so dicht an seinem Leib fühlte – aber ja, die Frau konnte einen Mann zum Wahnsinn treiben! Zum Wahnsinn! Da stand sie, dicht vor ihm, fast in seinen Armen. In seinem Griff, wenn er es wollte. Und eben doch nicht. Er glaubte noch immer zu spüren, daß das gleiche Verlangen sie erfüllte wie ihn, doch schien sie irgendwie dieses Verlangen in Schach halten zu können und ihn ebenfalls.
    Er dachte an all die Weiber, die er in all den Jahren in dieser und in der anderen Welt gekannt hatte, und versuchte sich zu erinnern, ob eine darunter so duftiges Haar gehabt hatte wie Helena, so weiße verführerische Glieder – doch er merkte, daß er, sich an keine von diesen Frauen besonders erinnern konnte; sie waren nur noch ein verwehter Rauch und ein dunkler verschwommener Fleck in seiner Erinnerung. Und diese Frau da, so nahe und doch so weit aus seiner zufassenden Sehnsucht gerückt, war hell und leuchtend und heiß brennend wie ein feuriger Diamant, klar und glitzernd und vollkommen.
    »Und nun bist du die Frau von diesem Raleigh?« fragte Enkidu.
    Sie lachte. Es klang wie das gefährliche, amüsierte Schnurren einer Löwin. »Der? Aber nein, obwohl es Schlimmeres gäbe! Nein, wir reisen nur gemeinsam. Er hält mich für unkeusch, für unrein. Für noch Übleres. Er nennt mich einen weiblichen Sukkubus. Die Babylonische Hure nennt er mich, dabei war ich nie in meinem ganzen Leben in Babylon. Ich bin eben leider nicht englisch, das ist das ganze Problem. Er mag eben nur englische Frauen, dieser Raleigh.«
    »Und dennoch läßt er dich mit ihm ziehen?«
    »Ich war eine Maid in Bedrängnis. Er fand mich verlassen im Outback – ich zog damals mit einem anderen Engländer herum, einem Lord, recht süß, aber ein bißchen seltsam – Byron hieß er, ein Dichter, der schrieb gerade an einer neuen Mas über mich, sagte er, aber eine Bande von Derwischen hat ihn niedergemetzelt. Unsere ganze Gruppe wurde ermordet. Nur ich entkam, und Raleigh fand mich und nahm sich meiner an, weil er ein dermaßen galanter Mann ist, auch wenn er mich verachtet. Und dann bin ich eben bei ihm geblieben, weil ich hoffte, daß er den

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