Das Land der lebenden Toten
Berührung.«
»So ist es«, bestätigte Gilgamesch.
Der Sumerer schwieg eine Weile und betrachtete in dem rauchigen Kerzenschein des Thronsaals diesen kühnen, selbstsicheren Mann, den Enkidu – sonnenverbrannt und ausgetrocknet und mehr als halb verhungert – aus der Wüstenödnis vor einiger Zeit angeschleppt hatte. Hinter Raleigh stand der zweite englische Mann, Hakluyt, der sanfte Bücherwurm, und dahinter stand das dunkle, schlanke Weib Helena, die Griechin, die von sich behauptete, sie sei die Trojanische Helena. Allem Anschein nach hatte sie nur Augen für Enkidu. Und der nur für sie. Zwischen den beiden knisterte eine heiße erotische Spannung in der Luft wie ein gespenstisches Feuer, und man brauchte kein Magier zu sein, um das zu spüren. Die Augen des Weibes waren zu Schlitzen geschlossen, die Nüstern blähten sich, die Zunge zuckte über die Lippen wie die einer Schlange; und was Enkidu anging, der stand steif da, die Hände zu festen Schalen geformt, als lägen ihre Brüste bereits darin. Gilgamesch zwinkerte ihm zu, doch er schien es nicht zu bemerken. Als Enkidu mit der Nachricht gekommen, war, daß der Anführer dieser zerlumpten Wanderer der Engländer Sir Walter Raleigh sei, und als Gilgamesch ihm sagte, daß Raleigh bekanntlich für seine Königin, die englische Elizabeth, nach einem Weg ins Land der Lebenden suchte, brannte Enkidu vor Neugierde, ob er da schon irgendwie Glück gehabt habe. »Befrage ihn, Bruder, frag ihn und bring ihn dazu, es dir preiszugeben«, sagte Enkidu. Doch von dem Augenblick an, da diese Helena ihre Klauen in ihn geschlagen hatte, schienen interessante Fragen wie der Weg ins Land der Lebenden und alles übrige für Enkidu ganz und gar nicht mehr so dringlich zu sein. In seinen Augen sah man jetzt nichts mehr als nur den Abglanz von Helena, Helena, Helena. Und sie glühte und schimmerte und leuchtete nur noch von Enkidu. Gilgamesch dachte: Vielleicht hat Enkidu diesmal endlich eine Frau gefunden, die seinem Appetit gewachsen ist. Es müßte interessant werden, das zu beobachten.
Jedoch, er hatte Enkidu versprochen, Raleigh zu befragen. Also würde er dies tun.
Nach einiger Zeit sagte er zu dem Engländer: »Und das Tor zum Land der Lebenden, Sir Walter, nach dem du, wie man sagt, gesucht hast? Ist dies auch eine von diesen merkwürdigen Lügengeschichten, oder steckt da etwas Wahres dahinter?«
»Oh!« Raleigh lächelte breit. »Dazu kann ich dir etwas Brauchbares sagen: Nach allem, was ich über dieses angebliche Tor wirklich weiß, Majestät, handelt es sich da um etwas ebenso wenig Greifbares wie die Mythen und Fabeln der alten Griechen oder die Geschichten der Table Ronde.«
Auch Gilgamesch lächelte nun. Raleigh hatte der Unterhaltung bewundernswert geschickt eine andere Wendung gegeben. Indem er sagte, er kenne keinen Weg ins Land der Lebenden, habe keinen Beweis, daß es einen solchen gebe, sagte er nämlich nicht aus, daß er nicht nach einem solchen Weg gesucht hatte. Auch nicht, ob er kurz davor gestanden war, ihn zu finden, als ihm der Proviant ausging und seine Kraft ihn verließ. Es war unverkennbar, der Mann hatte lange Zeit in vertrauter Nähe zu Menschen verbracht, die über große Macht verfügten, und beherrschte die Kunst, Informationen – vorzuenthalten, ohne direkt zu lügen. Es kann gefährlich sein, einen König zu belügen. Aber ebenso gefährlich kann es sein, ihm die Wahrheit zu sagen.
Es war offensichtlich, daß Raleigh nicht die Absicht hatte, über den Zweck seiner Expedition zu sprechen, auch nicht über das Land der Lebenden oder irgendwelche Tore, die dahin führen mochten. Nun, also sei es so, dachte Gilgamesch. Die Sache begann ihn zu langweilen. Er hatte keine Lust, den Mann darüber ernstlich zu befragen, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt. Noch ein bißchen Bohren, ein Versuch, vielleicht, dann wollte er es sein lassen. Das alles hatte weit weniger Bedeutung für ihn selbst als für Enkidu, wenn er es recht bedachte, und Enkidu schien im Moment wirklich ganz andere heftige Interessen zu haben.
Eines war deutlich, dieser englische Mann zeigte Mut, jedenfalls für jemand, der noch vor so kurzer Zeit so scheußlich im Dreck gesteckt hatte. Ein bemerkenswerter Mann, mit Hirn und Höflichkeit, mit einer hohen klugen Stirn, intelligenten Augen, einem sorgsam gestutzten Spitzbart. Er trug feinste Kleidungsstücke, elegante seidene und samtene Gewänder, verziert mit etlichen prächtigen silbern schimmernden Pailletten. Doch
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