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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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unbewaffnet, das kann er kaum übersehen.«
    »Sei vorsichtig, sei; vorsichtig!«
    Gilgamesch nickte.
    Als er ihm nahe gekommen war, deutete der Wächter auf den dort liegenden Mann und sprach: »Hast du ihn die Treppe runtergeschmissen?«
    »Der Mann hat mich angegriffen!« sagte Helena wild. »Ich bin fremd in dieser Stadt und bat um Auskunft, da packte mich plötzlich dieser Mann – seht doch, wie er mir das Kleid zerrissen hat! – Und wenn nicht mein Freund im rechten Moment vorbeigekommen wäre…«
    »Mal ruhig, Lady, nur Ruhe! Lassen wir erst mal den da sprechen. Du kannst dann gleich hinterher deine Aussage machen.« Und zu Gilgamesch sprach der Wächter: »Also? Hast du den da runtergeworfen?«
    Gilgamesch mühte sich um Gelassenheit. Die schneidenden schrillen Stimmen dieser unkultivierten kleinen Spättoten, ihre Überheblichkeit und Unverschämtheit, ja selbst die Art, wie sie Worte aussprachen, reizten ihn arg. Sie hingen um ihn herum, nölend und näselnd, ohne Ehrerbietung, belästigten ihn mit ihrem unverständlichen Brei von Kauderwelsch. »Ich gab ihm eine Ohrfeige, ja, als er anfing, mich anzuschreien, und er stürzte die Stufen hinab. Ich hatte nicht die Absicht – es lag mir völlig fern –, ihr müßt mir das glauben, daß ich nicht wollte – bei Enlil, der Kerl ist doch Abschaum! Einfach ein Dreckskerl! Laßt mich zufrieden. Ich habe nichts Unrechtes getan. Ich habe doch nur…«
    »He, Mann! He! Bleib cool, du Brocken!«
    »Cool?« sagte Gilgamesch. »Cool?«
    Der Wächter nickte. »Genau! Bleib cool, dann geht das alles für dich schon okay. Wir werden dich nicht einbuchten. Wir haben hier ‘ne Menge Augenzeugen für den Vorfall, und die sagen alle aus, daß du der Lady geholfen hast und daß er dich mit dem Messer bedrohte. Trotzdem müssen wir nach Protokoll vorgehen, verstehst du?«
    Gilgamesch runzelte die Stirn. »Protokoll?«
    »Also, zuerst brauche ich mal deinen Namen, okay?«
    »Aber selbstverständlich«, sagte Gilgamesch großmütig. Er richtete sich zu seiner ganzen hohen Heldenhaftigkeit auf. »So wisset also, ich bin Gilgamesch, Sohn des Lugalbanda, König von Uruk. Das Weib mit mir ist Helena, Königin von Sparta, ehemals Gemahlin von Menelaos, die überall in dieser Welt und der anderen unter dem Namen Helena von Troja berühmt ist…«
     
     
    »Hinky?« rief Gallagher. »He, Hinky! Da ist jemand für dich. Telefon.«
    »Ich komme«, sagte Enkidu.
    Er entrollte sich auf dem schmalen Sofa, auf dem er erfolglos ein Nickerchen zu machen versucht hatte, und ging zur Tür des Umkleideraums auf der Hinterseite des Clubs, wo Gallagher ihn untergebracht hatte. Draußen im Gang lehnte Gallagher, mit einem Drink in der Hand, direkt gegenüber der Tür.
    »Der Apparat ist gleich da unten«, sagte er.
    »Ist es die Polizei?«
    »Wer weiß sonst noch, daß du hier bist?«
    »Niemand«, antwortete Enkidu.
    »Dann muß es die Polizei sein.«
    »Haben sie meine Freunde gefunden?«
    »Hör mal«, sagte Gallagher, »ich weiß das nicht. Der Anruf ist für dich. Also geh und rede mit den Leuten, dann erfährste schon, was los ist.«
    »Genau«, sagte Enkidu. »Genau.« Und er begann den Flur hinunter zu gehen. Doch nach ein paar Schritten zögerte er und sagte: »Willst du vielleicht an den anderen Apparat gehen, so wie vorher, Bill? Wenn mir nicht die richtigen Wörter einfallen, die ich sagen muß. Du könntest dich einschalten, du könntest verhindern, daß ich blöd wirke.«
    »Ja«, sagte Gallagher. »Ja, das mach ich dann wohl besser.«
    Zusammen gingen sie den Gang hinunter ans Telefon.
    Es war der dritte Tag, den Enkidu hier verbracht hatte; in der kleinen Kammer hinten im Club Ultra Ultra in der West 54th Street. Gallagher hatte ihn auf einem Platz entdeckt, wo er umherirrte, den sie Times Square nannten, wo er nach Helena und Gilgamesch suchte. Gallagher war ein kleiner betriebsam wirkender Mensch mit dichtem, krausem sandfarbenen Haar, das dicht an seiner Schädeldecke klebte, und er besaß die härtesten und kältesten blauen Augen, die Enkidu je gesehen hatte. Er hatte nicht lange gebraucht, Enkidu in ein Gespräch zu ziehen.
    »Fremd in der Stadt, was?«
    Enkidu hatte ihn angelächelt. »Wie kannst du das wissen?«
    »Ach, gar nicht so schwer, das zu sehen. Bist du ‘n Ringer? Vielleicht ein Ex-Footballspieler? Du suchst nicht zufällig ‘nen Job?« Die eisigen Augen glitzerten wie geschliffene Marmorkugeln. »Ein toller Brocken wie du. Ich hätte da vielleicht Arbeit

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