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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Enkidu helfen…
    Ja. So mußte es sein. Ja.
    Er begann die Treppe hinaufzusteigen.
    Auf noch nicht halber Höhe fiel ihm etwas Ungewöhnliches nur ein paar Stufen weiter oben auf. Eine dunkelhaarige Frau, die für einen derart kalten Tag viel zu dünn bekleidet war, rang dort mit einem schäbig angezogenen Mann, der sie mit sich fortzuzerren versuchte, wie es aussah. Das Gewand der Frau war zerrissen, und sie fluchte und kreischte. Mit dem einen freien Arm schlug sie wütend auf den Mann ein, doch es nutzte wenig, denn dieser lachte nur und redete die ganze Zeit weiter, während er sie über die Stufen zerrte.
    Am seltsamsten fand Gilgamesch, daß da zwar zahllose Leute auf den Stufen saßen, davon einige ganz in der Nähe des Mannes und der Frau, daß aber keiner dem Kampf die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Vielleicht war es Brauch in diesem Land, daß Männer den Frauen auf den Stufen vor öffentlichen Gebäuden Gewalt antun mußten. Aber verlangte dieser Brauch auch, daß niemand dem Opfer zu Hilfe kommen durfte? Seltsam, seltsam. Gilgamesch zögerte kurz, sah empört hin, wußte aber nicht, wie er angemessen reagieren sollte.
    Doch dann hörte er das Weib laut schreien: »Enkidu! Wo immer du bist, hilf mir! Hilfe, Enkidu!«
    Bei allen Göttern! Die Frau war Helena!
    Gilgamesch setzte sich sofort in Bewegung, war im Nu die Stufen hinaufgeeilt, packte den Mann am Arm, hebelte ihn herum und verdrehte ihn ihm und zerrte ihn mit einem raschen Ruck von Helena fort.
    Der Mann wirbelte herum und fauchte Gilgamesch wütend an: »He, Mann, was soll’n der Scheiß?«
    »Gilgamesch! Er hat ein Messer!«
    »Ich habe es gesehen.«
    Die Klinge blitzte. Gilgamesch sah den Stoß kommen, der aufwärts zur Mitte seiner Brust zielte, und faßte das Handgelenk des Mannes, bevor die Waffe ihn treffen konnte. Er bog die Hand des Angreifers nach hintern Es gab ein scharfes knackendes Geräusch, und das Messer entfiel seinen Fingern. Helena hob es auf und schleuderte es die Treppe hinab. Der Mann führte vor Gilgamesch einen grotesken Tanz auf, er brabbelte und zischte vor Schmerz und Verblüffung und stieß einen Strom unverständlicher Obszönitäten aus. Voll Verachtung schlug Gilgamesch ihn, wie man nach einem lästigen Insekt schlägt. Die Ohrfeige riß den Kerl in die Luft und schickte ihn taumelnd und mit Armen und Beinen wedelnd die gesamte Treppe bis zur untersten Stufe hinab. Vor dem linken Löwenstandbild schlug er mit dem Kopf gegen die Stufenkante und landete wie ein Haufen fortgeworfener Lumpen am Sockel des Bildnisses. Er wimmerte noch ein Weilchen, dann wurde er still.
    Gilgamesch wandte sich zu Helena, die mit bleichem Antlitz, geweiteten Augen und zitternd dastand.
    »Bist du verletzt?« fragte er. »Hat er dir etwas getan?«
    »Nein, er hat mir nur einen Schrecken eingejagt. Der dreckige anmaßende Tölpel wagte es, mich anzufassen, mich, die einst eine Königin war, deretwegen der größte Krieg aller Zeiten angezettelt wurde…« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, was er mit mir vorhatte. Mich in seine Hütte zerren, nehme ich an. Glaubst du, du hast ihn umgebracht?«
    »Ich bezweifle es. Nicht daß es besonders schade wäre um ihn. Ist Enkidu mit dir da?«
    »Nein. Ich dachte, vielleicht ist er mit dir zusammen.« Plötzlich schien die ganze königliche Empörung von ihr abzufallen, und sie war nur noch eine zierliche fröstelnde Frau in einem zerknitterten und zerrissenen Kleid. »Wo sind wir hier gelandet, Gilgamesch? Was sollen wir tun?«
    »Wir sind im Land der Lebenden. Und Enkidu muß sich hier irgendwo ganz in der Nähe aufhalten. Wenn wir einfach hier stehenbleiben und warten, vielleicht kommt er dann vorbei. Und sobald wir wieder zu dritt sind, können wir…«
    »Oh. Schau mal, Gilgamesch! Da unten.«
    Am Fuß der Treppe, wo Helenas Angreifer immer noch lag, begann sich eine Gruppe von Menschen zu sammeln. Gilgamesch sah, daß einer von diesen blaugewandeten Straßenwächtern neben dem Mann kniete, und daß ein zweiter mit den dort versammelten Leuten sprach. Sie zeigten zu ihnen herauf. Einer der Wächter winkte Gilgamesch zu.
    »Was willst du jetzt machen?« fragte Helena.
    »Ich denke, ich gehe hinunter und spreche mit ihm. Ich habe nichts Übles getan. Und diese Staatsbediensteten können uns vielleicht helfen, eine Bleibe und etwas zu essen zu finden.«
    »Er hat eine Schußwaffe, Gilgamesch!«
    Der Sumererkönig nickte. »Ich sehe es. Aber ich will ihm ja nichts tun. Ich bin

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