Das lange Lied eines Lebens
»Marguerite, du bist eine sehr, sehr brave Niggerin.«
Doch es war nicht so sehr das Einfädeln des Zwirns, dünner als ihr eigenes Haar, in die spitze, kleine Nadel. Auch nicht, dass July, als sie erstmals für ihre Missus nähte, ihre Arbeit so anging, wie sie es ihrer Mama abgeschaut hatte – mit breiten Stichen, bei denen der kräftige Arm ihrer Mama zu einem weiten Bogen ausholte, damit der lange Faden straff durch das raue Gewebe des Stoffs aus Penistone gezogen werden konnte; und dass ihre Missus, als sie diese ausladende Bewegung sah, die Stirn runzelte und mit erhobenem Finger sagte: »Nein, nein, nein, nicht so!«, und dann bei ihrem zarten Gewebe auf winzigsten Stichen bestand, Stichen, bei denen die Nadel scharf wie ein Rattenbiss in Julys Fingerkuppe eindrang, wenn ihre Augen vom zierlichen Weg abirrten. Nein. Es waren die langen Stunden, die July fast
vollkommen reglos in der Kammer ihrer Missus sitzen musste, um ihre Aufgabe zu verrichten. Den ganzen Tag! Und July hatte Beine, die dort einfach nicht ausharren wollten.
Denn die waren es gewohnt, den Arbeitstag damit zu verbringen, dass sie die dritte Sklavenkolonne, in der die schwarzen Kinder arbeiteten, anführten – wenn sie zum Fluss gingen, hüpften, sprangen oder trödelten und dabei wie Küken piepsten, schwangen ihre hölzernen Kübel leicht in ihren festen Fäusten. July, die bei ihrer Missus saß, machte einen Stich, einen zweiten Stich, einen dritten Stich, bevor ihre Beine zu zappeln begannen. Ein vierter Stich, ein fünfter Stich, und sie sprangen auf und liefen im Zimmer umher. »Bist du fertig?«, rief ihre Missus dann. Und folgsam wie ein gescholtener Hund setzte sich July wieder auf ihren Stuhl, um von Neuem zu beginnen. Ein Stich, ein zweiter Stich, ein dritter Stich, und sie musste an die zerlumpten Kinder der dritten Arbeitskolonne denken, wie sie ihre durstlöschende Last zu den Zuckerrohrfeldern von Dover und Scarlett Ponds schleppten. Dass sie mit ihren Kübeln voller Wasser langsam wie ein Trauerzug vorankamen, dabei wie alte Weiber ächzten und sich doppelt anstrengen mussten, um die überschwappenden Behältnisse hoch genug zu heben und sie auf dem langen Marsch zu den durstigen Mündern der auf den Zuckerrohrfeldern arbeitenden Sklaven nicht einfach nur über den Erdboden zu schleifen.
Ein sechster Stich, ein siebenter Stich, ein achter Stich, und schon lauschte July auf die vertrauten Geräusche, welche die Brise hereintrug, die durch das hohe Fenster wehte: der Singsang eines Arbeitsliedes; war das nicht Ned, das Maultier, das da schrie? Und hier stapften sie alle zusammen nach Virgo; das musste der hässliche Treiber sein, der seine Peitsche knallen ließ; ist das nicht der Massa, den ich da höre, wie er auf seinem Pferd dahingaloppiert? Warum schreien sie so? Oh, die werden rennen, um den Karren einzuholen! Und dann fingen ihre Beine wieder an zu zappeln.
Wundert es da irgendwen, dass July, statt die Tasche des Kleides zu flicken (ein kleines Loch, das der eingerissene Fingernagel der Missus verursacht hatte), die Schere nahm und vorsichtig um das kleine Stückchen Stoff herumschnitt, bis die Tasche vollständig abgelöst war? Dann versteckte sie die abgetrennte Tasche unter ihrem Rock und sagte fröhlich zu ihrer Missus: »Fertig.«
Ihre Missus untersuchte die Ausbesserung und steckte dazu die Hand bis zum Ellenbogen in die Taschenöffnung, bevor sie merkte, dass hier etwas nicht stimmte. Sie drehte das Kleid auf links, damit ihr Auge besah, was ihre Hand längst wusste, warf das Kleid zu Boden und packte Julys Handgelenk. Julys gespreizte Finger vor sich, nahm sie eine Nadel, verbog sie, bis sie einen Dolch abgab, und stach mit der scharfen Spitze vier Mal in Julys Hand.
»Jedes Mal, wenn du beim Nähen etwas Schlimmes anstellst«, sagte ihre Missus, »muss ich dich bestrafen, sonst lernst du es nicht.« Dann stach sie ihr noch zwei Mal in die Hand. Und July schrie auf wie ein Mann, den man mit der neunschwänzigen Katze geschlagen hat.
»Mama, Mama, Mama!», jammerte July und hüpfte auf und ab. Und die kleine abgetrennte Tasche glitt aus ihrem Versteck hervor und fiel zu Boden. Auf einmal begann das Gesicht ihrer Missus das ganze Zimmer auszufüllen, denn sie beugte sich dicht zu July und schrie: »Deine Mama ist verkauft. Sie ist verkauft, hörst du? Verkauft. Du gehörst jetzt mir.« Und als July erneut nach ihrer Mama rief, wurden ihre aufgeblasenen Backen rot wie Scotch-Bonnet-Pfefferschoten.
In jenen
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