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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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frühen Tagen konnte man July stets in einer Ecke der Küche hinter dem steinernen Herd antreffen, unter dem Wandbrett, auf dem die schwankenden gusseisernen Töpfe und Stielpfannen standen. Schniefend und weinend saß sie da, zu einer engen Kugel zusammengerollt, soweit ihre Knie und Arme es erlaubten. Das Verlangen nach ihrer Mama wurde zu einem
Schmerz, der wie Hunger in ihr brannte. Wenn jemand in die Küche trat – das blendende Licht in der Tür verdunkelte wie eine Wolke die Sonne –, blickte sie sehnsuchtsvoll auf. Denn sie verzehrte sich danach, dort ihre Mama stehen zu sehen, wie sie verärgert an den Zähnen sog, mit ihren großen Augen rollte und July zurief, ihr Maisbrei stehe auf dem Herd, und die Hütte müsse gefegt werden, denn der Wind habe einen Haufen Unrat hereingeweht, während sie auf dem Feld gewesen sei und, ha!, July solle kommen, und zwar auf der Stelle.
    Mit fest geschlossenen Augen konnte July fühlen, wie ihre Mama ihr ein Zeichen gab, die drückende Hitze des Ofens in der Küche zu verlassen, und sich dabei auf den Oberschenkel klatschte: »Beeilung, July, Beeilung, bevor die Missus dich holt.« Oder sie hielt Julys Lumpenpuppe hoch – die mit dem steifen Gingham-Rock und dem einen blauen Knopfauge –, um July mit schmeichelnden Worten zu ihren Pflichten nach Hause zu locken: »Peg wartet schon, dass du kommst.«
    Schlug July jedoch die Augen auf, standen da nur Fremde und brüllten: »Komm schon, kleine Niggerin, wenn du nicht brav bist, wirst du aufs Feld zurückgeschickt.« Und doch, ganz gleich, wen July trat, bespuckte, zerkratzte und verwünschte, nie wurde sie nach Hause geschickt. Fast jeden Sonnenaufgang rannte sie aus dem Herrenhaus davon und suchte den Pfad zum Negerdorf – und fand sich von finsteren Bäumen umstellt oder hilflos inmitten hoher Gräser, die sie am Kinn piksten. Doch auf dieses Vergehen folgte lediglich, dass sie von Godfreys knurrenden, geifernden Hunden zurückgejagt wurde, bevor man sie an den Haaren vor ihre Missus zerrte.
    In der Hoffnung, verloren zu gehen und schließlich vergessen zu werden, versteckte sie sich im Tau der Nacht in den Stallungen bei den Pferden. Am nächsten Morgen stank sie so nach Dung und war so mit Stroh bedeckt, dass sie wie ihre Lumpenpuppe aussah – dennoch wurde sie nicht zurückgeschickt.

    Schon bald waren die Bäume nahe der Küche fast kahl, weil Godfrey aus den Zweigen Ruten schnitt, um July damit den Hintern zu versohlen – die ganze Zeit beschwerte er sich über die Schmerzen in seiner Schulter, weil er so oft mit einem Stück Baum auf sie einprügeln müsse.
    Und July zählte die Tage: einen Tag, zwei Tage, drei Tage lang hatte sie ihre Mama nicht gesehen. Vier Tage, fünf Tage, sechs Tage, und noch immer war ihre Mama nicht gekommen. Sieben Tage, acht Tage … Sie zählte, bis alle Zahlen, die sie gelernt hatte, aufgebraucht waren. Und so fing sie wieder von vorn an: einen Tag, zwei Tage, drei … Und noch immer blieb sie im Herrenhaus.
    Caroline Mortimer hatte sich zäh entschlossen gezeigt, aus July (oder, wie sie glaubte, Marguerite) eine Zofe zu machen; so sicher wie ein Truthahn, der für die Weihnachtstafel bestimmt ist, so sicher war July für diese Aufgabe herangezüchtet, eingefangen und farciert worden. Denn das weiße Mädchen Mary, mit dem Caroline (auf Anweisung ihres Bruders) von England aus über den Ozean gesegelt war, war bereits wenige Wochen nach ihrer Ankunft auf der Plantage verstorben. Und das, obwohl der Massa Florence und Lucy damit beauftragt hatte, dieses Knochengestell von einem Dienstmädchen, das sich in heftigen Fieberanfällen und unter quälenden Magenschmerzen wand, so zu pflegen, dass es wieder knicksenden Gehorsam leistete.
    Doch es kam anders, was daran lag, dass man von Mary, die aus einem Ort namens Cork gekommen war, um Caroline Mortimer zu bedienen, an Bord des Segelschiffs aus England erwartete, dass sie sich beim Scheißen hinkauerte und die Hinterbacken über den Rand des Decks baumeln ließ. Nun hatte außer ihrer Mama niemand sonst diese ihre beiden Backen je zuvor gesehen, und Mary fand, dass auch niemand sonst sie je zu sehen bekommen solle. Obwohl sie Carolines vollen Nachttopf auf dieser langen Überfahrt jeden Morgen achtsam
über die Reling entleerte, hatte Mary nur selten auch ihre eigene Scheiße fallen lassen, sondern sie so lange einbehalten, dass diese sie schließlich mit einem mysteriösen Leiden aufs Krankenlager warf. Schließlich nahm sie Abschied von

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