Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
hässlich und naiv finden.«
Erst nach dieser Anweisung ließ er den Einband los.
Die Kundin starrte ihn an. So erschreckt, wie sie ihn ansah, wusste er, dass er sie getroffen hatte. Ziemlich genau.
Dann ließ sie das Buch fallen.
»Sie sind ja total verrückt«, hauchte sie, wirbelte herum und stöckelte mit gesenktem Kopf durch den Bücherbauch zum Quai.
Monsieur Perdu hob den Igel auf. Der Einband hatte sich beim Sturz den Rücken verknackst. Er würde den Roman von Muriel Barbery wohl für ein, zwei Euro einem der Bouquinisten, den Bücherleuten am Quai, und ihren Wühlkisten überlassen müssen.
Dann sah er der Kundin nach. Wie sie sich durch die Menge der Flaneure kämpfte. Wie ihre Schultern in dem Kostüm bebten.
Sie weinte. Sie weinte wie jemand, der weiß, dass er natürlich nicht an diesem kleinen Drama zerbrechen wird. Der aber tief verletzt ist von der Ungerechtigkeit, dass es gerade ihr, gerade jetzt passierte. Man hatte ihr doch bereits eine Wunde geschlagen, brutal und tief. Reichte die nicht, musste noch so ein gemeiner Buchhändler daherkommen?
Monsieur Perdu vermutete, dass sie ihn, den blöden Papiertiger auf seiner doofen Literarischen Apotheke, auf ihrer persönlichen Eins-bis-zehn-Idiotenskala bei ungefähr zwölf einsortierte.
Er stimmte ihr zu. Sein Ausbruch, seine unsensible Rechthaberei musste etwas mit der vergangenen Nacht und dem Zimmer zu tun haben. Er war sonst geduldiger.
Im Prinzip konnte ihn kein Wunsch, keine Schimpferei und keine Merkwürdigkeit seiner Kunden erschüttern. Er ordnete sie in drei Kategorien. Die ersten waren jene, denen Bücher die einzig frische Luft in der Stickigkeit ihres Alltags bedeuteten. Seine liebsten Kunden. Sie vertrauten darauf, dass er ihnen sagte, was sie brauchten. Oder sie vertrauten ihm ihre Verletzlichkeiten an, wie »bitte keine Romane, in denen Berge oder Aufzugsfahrten oder Ausblicke vorkommen – ich habe nämlich Höhenangst«. Manche sangen Monsieur Perdu Kinderlieder vor, oder vielmehr brummten sie »mmhmm, mmh, dadada – das kennen Sie, oder?« –, hoffnungsvoll, dass sich der große Buchhändler für sie erinnerte und ihnen ein Buch gab, in dem die Melodien ihrer Kindheit eine Rolle spielten. Meistens wusste er es tatsächlich. Es gab mal eine Zeit, da hatte er viel gesungen.
Die zweite Kategorie Kunden kam nur auf seine Lulu, das Bücherschiff im Champs-Élyseés-Hafen, weil sie vom Namen der darauf installierten Buchhandlung angelockt waren: La pharmacie littéraire – die Literarische Apotheke.
Um ein paar originelle Postkarten zu kaufen (»Lesen gefährdet die Vorurteile« oder »Wer liest, lügt nicht – zumindest nicht gleichzeitig«), ein paar Miniaturbücher in braunen Medizinfläschchen zu erstehen oder um Fotos zu machen.
Aber diese Leute waren geradezu reizend im Gegensatz zu der dritten Sorte, die sich für Könige hielten, nur leider nicht so benahmen. Sie fragten Perdu vorwurfsvoll, ohne ein Bonjour, ohne ihn anzusehen, und jedes Buch betastend mit fettigen Fingern, mit denen sie vorher Pommes frites gegessen hatten: »Sie haben keine Pflaster mit Gedichten? Kein Toilettenpapier mit Fortsetzungskrimis? Wieso führen Sie keine aufblasbaren Reisekissen, das wäre mal sinnvoll in einer Bücherapotheke.«
Perdus Mutter, Lirabelle Bernier, geschiedene Perdu, hatte angeregt, Franzbranntwein und Thrombosestrümpfe zu verkaufen. Frauen ab einem gewissen Alter bekämen schwere Beine beim Lesen im Sessel.
An manchen Tagen liefen die Strümpfe besser als die Belletristik.
Er seufzte.
Wieso nur war die Kundin in ihrer dünnhäutigen Gefühlslage so erpicht darauf, Die Nacht zu lesen?
Gut, sie hätte ihr nicht geschadet.
Nicht sehr, zumindest.
Die Zeitung Le Monde hatte den Roman und Max Jordan als die »neue Stimme der zornigen Jugend« gefeiert. Die Frauenzeitschriften hatten sich nach dem »Jungen mit dem Hungerherz« verzehrt und großformatige Bilder des Autors abgedruckt, größer als das Buchcover. Max Jordan schaute immer etwas verwundert auf diesen Bildern.
Und verwundet, dachte Perdu.
In Jordans Debüt wimmelte es von Männern, die der Liebe aus Angst vor Selbstverlust nichts als Hass und zynische Gleichgültigkeit entgegenzusetzen hatten. Ein Kritiker hatte Die Nacht als »Manifest des neuen Maskulinismus« gefeiert.
Perdu hielt es für etwas weniger Hochtrabendes. Es war eine verzweifelte Bestandsaufnahme aus dem Innenleben eines jungen Mannes, der erstmalig liebt. Und nicht versteht, wie er,
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