Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
Arzneischrank seiner Werke herausgegeben. »Der vorliegende Band ist der Therapie des Privatlebens gewidmet«, schrieb der Dichter im Vorwort. »Er richtet sich, zumeist in homöopathischer Dosierung, gegen die kleinen und großen Schwierigkeiten der Existenz und dient der ›Behandlung des durchschnittlichen Innenlebens‹.«
»Kästner war ein Grund, warum ich mein Bücherschiff Literarische Apotheke nannte«, sagte Perdu. »Ich wollte Gefühle behandeln, die nicht als Leiden anerkannt sind und nie von Ärzten diagnostiziert werden. All diese kleinen Gefühle, Regungen, für die sich kein Therapeut interessiert, weil sie angeblich zu klein und zu unfassbar sind. Das Gefühl, wenn wieder ein Sommer zu Ende geht. Oder zu erkennen, nicht mehr ein ganzes Leben Zeit zu haben, um seinen Platz zu finden. Oder die kleine Trauer, wenn eine Freundschaft doch nicht in die Tiefe geht und man weitersuchen muss nach einem Lebensvertrauten. Oder die Schwermut am Morgen des Geburtstags. Heimweh nach der Luft seiner Kindheit. So etwas.«
Er erinnerte sich, dass seine Mutter ihm mal ein Leiden verraten hatte, das sie schmerzte, ohne dass es ein Gegenmittel gab. »Es gibt die Frauen, die einer anderen nur auf die Schuhe schauen, aber nie ins Gesicht. Und die anderen, die Frauen immer ins Gesicht schauen und nur selten auf die Schuhe.« Ihr waren die zweiten lieber, von den Ersteren fühlte sich Lirabelle gedemütigt und verkannt.
Um genau solche unerklärbaren, aber dennoch realen Leiden zu lindern, dafür hatte er das Schiff gekauft, das damals noch ein Frachtkahn war und ursprünglich Lulu hieß, hatte es eigenhändig umgebaut und mit Büchern gefüllt, die bei zahllosen unbestimmten Seelenkrankheiten die einzige Medizin waren.
»Schreiben Sie das doch. Gefühlsenzyklopädie für literarische Pharmazeuten.« Die alte Frau setzte sich gerade hin, wurde aufgeregter, lebhafter. »Fügen Sie Fremdvertrauen hinzu, unter F. Das seltsame Gefühl in Zügen, wenn man sich einem Unbekannten gegenüber weiter öffnet als je der eigenen Familie. Und Enkeltrost, unter E. Das ist das Gefühl, dass es weitergeht, das Leben.« Sie schwieg verträumt.
»Zehenschüchtern. Das war ich auch. Und gemocht … gemocht hat er meine Füße dann doch.«
Es ist ein Gerücht, dachte Perdu, als sich Großmutter, Mutter und das Mädchen von ihm verabschiedet hatten, dass sich Buchhändler um Bücher kümmern.
Sie kümmern sich um Menschen.
Als der Kundenstrom zur Mittagszeit nachließ – Essen war den Franzosen heiliger als der Staat, die Religion und das Geld zusammen –, fegte Perdu mit dem kräftigen Borstenbesen die Gangway und rührte dabei ein Nest Brückenspinnen auf. Dann sah er Kafka und Lindgren unter den Alleebäumen des Ufers auf ihn zuspazieren. Die beiden Straßenkatzen, die ihn täglich besuchten, hatte er so genannt, weil sie gewisse Vorlieben entwickelt hatten. Der graue Kater mit dem weißen Priesterkragen wetzte seine Krallen mit Genuss an den Forschungen eines Hundes von Franz Kafka, einer Fabel, in der die Menschenwelt aus Hundesicht gedeutet wird. Die rot-weiße Lindgren mit ihren langen Ohren indes lag gern bei den Büchern über Pippi Langstrumpf. Eine schöne Katze mit einem freundlichen Blick, die aus den Regaltiefen hervorlugte und jeden Besucher aufmerksam betrachtete. Manchmal taten Lindgren und Kafka Perdu den Gefallen, sich von einem der oberen Regalbretter ohne Vorwarnung auf einen Kunden der dritten Kategorie, die mit den Fettfingern, plumpsen zu lassen.
Die beiden belesenen Straßenkatzen warteten, bis sie sicher vor blinden großen Füßen an Bord kommen konnten. Dort strichen sie dem Buchhändler zärtlich maunzend um die Hosenbeine.
Monsieur Perdu stand ganz still. Kurz, nur sehr kurz, erlaubte er sich, seinen Abwehrpanzer zu öffnen: Er genoss die Wärme der Katzen. Ihre Weichheit. Er gab sich für Sekunden mit geschlossenen Augen der unendlich zarten Empfindung an seinen Waden hin.
Diese Beinahe-Liebkosungen waren die einzigen Berührungen in Monsieur Perdus Leben.
Die einzigen, die er zuließ.
Der kostbare Moment verging, als hinter der Regalwand, in der Perdu Bücher gegen die fünf Sorten Unglück der Großstadt (die Hektik, die Gleichgültigkeit, die Hitze, der Lärm und der – natürlich global anzuwenden – sadistische Busfahrer) einsortiert hatte, etwas einen infernalischen Hustenanfall bekam.
5
D ie Katzen huschten fort in das Dämmerlicht und suchten in der Kombüse nach der Dose mit Thunfisch,
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