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Das Leben Findet Heute Statt

Das Leben Findet Heute Statt

Titel: Das Leben Findet Heute Statt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruder Paulus Terwitte
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hatte, dass ich für die Nachwuchssuche im Orden zuständig bin: «Aber bitte nicht meinen Sohn anwerben!» Auf die Frage, warum denn nicht, kam spontan die Antwort: «Der darf dann ja nie raus!» Auf meine Gegenfrage hin: «Ja, bin ich denn nicht gerade unterwegs und eben nicht im Kloster?», musste sie dann doch lachen.
    Ob sie davon gelernt hat für den Moment, in dem der Sohn ihr vielleicht genau diesen Wunsch vortragen wird, wage ich zu bezweifeln. Man kann sich noch so sehr anstrengen als Mönch, aber auch als Politiker oder Fußballspieler: Wirklich ist, was die Leute zu wissen meinen. Die wirkliche Wirklichkeit interessiert keinen mehr. Mehr noch: Man setzt alles daran, die eigene Meinung, woher immer sie auch kommen mag, über die Wirklichkeit zu stellen. Der Kommunikationsforscher, Konstruktivist und Psychologe Paul Watzlawick hat das treffend in seiner «Anleitung zum Unglücklichsein» am Beispiel eines Mannes klargemacht, der alle zehn Sekunden in die Hände klatscht. Nach dem Grund für dieses merkwürdige Verhalten befragt, erklärt er: «Um die Elefanten zu verscheuchen.» Auf den Hinweis, es gebe hier doch gar keine Elefanten, antwortet der Mann: «Na, also! Sehen Sie?»
    Zu den Elefanten heute zählt nicht nur unser Kloster, in dem das Leben nach Überzeugung vieler Zeitgenossen einfach verstaube, mittelalterlich oder gar unmenschlich verlaufen müsse. Wie es da wirklich zugeht und warum es da so zugeht: Das scheint auf viele zu komplex zu wirken. Da müsste man ja genauerhinsehen. Dafür müsste man sich ja Zeit nehmen. Wie schön, dass Sie sich diesen Moment jetzt nehmen! Dem Kloster und seinen Bewohnern geht es da ähnlich wie anderen Elefanten. Dass etwa ein Bürgermeister ehrlich sein kann, ein Manager kein Egoist sein muss und nicht jeder Bischof hinterm Mond lebt, ahnt man zwar, aber man bleibt lieber kurzsichtig für die differenzierte Wirklichkeit. Wie es aktuell aussieht im Kloster, in einer Staatsverwaltung oder einer Bank, interessiert niemanden. Man möchte an seinem Weltbild festhalten. Man könnte ja sonst herausbekommen, dass die Menschen dort ebenso sind wie man selbst. Menschen nämlich mit individueller Entscheidungsfreiheit wie du und ich. Man würde erkennen, dass nicht nur andere Fehler machen, sondern auch man selbst. Es würde deutlich werden, dass jeder am Rad der Geschichte mitdreht. Durch diesen Blick aufs Ganze würde sich einem die Frage aufdrängen, was man denn selbst tut, um nicht so schrecklich zu sein wie die da. Das ist anstrengend. Zu anstrengend. Also bleibt man lieber bei den meist schlimmen Bildern, die man sich von den anderen gemacht hat. Wir schauen bei ihnen oft nicht genauer hin, weil wir bei uns selbst nicht anfangen wollen, unser Leben gut oder besser zu gestalten. Statt am Heute zu arbeiten, gehen wir lieber zurück. Geschichte boomt. Nachgestellte Szenen aus dem Mittelalter dürfen in keiner Dokumentation fehlen. Wen kümmert es schon, ob Dichtung und Wahrheit dabei vermischt werden? Es wird schon irgendwie so gewesen sein.
    Das Fernsehen überschlägt sich mit History-Fiction-Produktionen. Der historische Roman wird gelesen wie ein Geschichtsbuch. Der Run auf die Klöster passt da ins Bild. Es ist eine Hinwendung zum Gestern. Man flieht in die alte Ordnung, die dort ja noch herrschen soll, um den Schmerz zu lindern, den man im Chaos von heute empfindet.
    Historienmärkte werden so selbstverständlich besucht, dass ich hin und wieder angesprochen werde: «Zu welchem Event fahren Sie denn?» Kein Wunder, denn auch jene, die als Gaukler oder Mägde dort auftreten, reisen in ihrer Verkleidung zum Ort des Geschehens – so selbstbewusst ist die Szene geworden. Viel zu viele halten für bare Münze, was auf alt getrimmte Wagen und Zelte da vorspielen. Das ist es auch – für jene, die daran verdienen. Gut erfunden, möchte man immer wieder reinrufen. Ein schönes Spiel!
    Nur war es leider ganz anders, das Leben früher. Wer es genau verstehen wollte, müsste sich mit den Widersprüchen auseinandersetzen, die es damals in der Zeit ebenso gab wie heute. Ich wünsche mir zu jedem Event eine passende Ausstellung zu der Zeit, die dargestellt wird. Auch ein seriöser Geschichtsvortrag kann Interessenten finden, die vom dritten Stand mit Honigwein oder Folterinstrumenten schon angeödet sind. Natürlich duftet ein Brot aus dem Holzofen verführerisch. Dazu gehört aber auch eine Tabelle, die darüber Auskunft gibt, was man sich für den Wert eines Brots damals

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