Das Leben Findet Heute Statt
in vielerlei Hinsicht solche Umgrenzungen wieder gezogen werden müssen.
Wir sind zu einer Gucklochgesellschaft geworden, die das ganze Leben für eine einzige Peepshow hält. Man überschlägt sich im Heranzoomen. Die Kamera wird erbarmungslos draufgehalten. Das Detail muss en gros gezeigt werden. Jeder will in der ersten Reihe sitzen. Die Katastrophe wird ausgeschlachtet. Wir starren auf die täglichen Schreckensnachrichten und fühlen uns seltsam wohl dabei: Solange es bei den anderen so schlimm ist, geht es uns ja noch gut. Warum sollen wir uns da bessern? Das hat noch bis morgen Zeit.
Eine Gesellschaft von Kurzsichtigen ist gefangen im Starren auf Nahaufnahmen. Ich sehe die Zeiten kommen, in denen Fernseher Nahseher genannt werden. Anstatt dass sich jeder ein Bild vom Leben macht, das er zu leben versucht, lassen wir uns vor dem Bildschirm vom Leben der anderen lähmen. Wir verplempern die Zeit mit der gespielten Wirklichkeit und schauen gebannt auf Soaps wie «Rote Rosen» oder die «Lindenstraße» und wundern uns nur noch, warum es bei uns selbst nicht so drehbuchgerecht zugeht.
Die neue Kurzsichtigkeit klebt unseren Blick an die Mattscheibe und den Computerbildschirm. Wir trauen uns nicht, dem Nächsten in die Augen zu sehen. Eindrücklich erlebe ich das, wenn ich Verwandte besuche, die mit anderen älteren Menschen in einer Wohnanlage kaserniert leben. Die Angebote zum gemeinsamen Tun werden nur spärlich wahrgenommen; stattdessen dringen, wegen der Schwerhörigkeit der Bewohner, die einschlägigen Stimmen der verschiedenen Nachmittagsshows laut durch die verschlossenen Türen.
Mir fällt in mediterranen Ländern auf, dass man dort gewohnt ist, vor der Tür zu sitzen und miteinander zu plauschen.Man macht sich im Gespräch ein Bild von der Wirklichkeit. So sehr dabei auch die Gefahr besteht, nur noch Gerüchte breitzutreten: Da gibt es noch den Kontakt zwischen den Menschen, bei dem man sich vergewissert, dass man dazugehört. Da fällt auf, wenn einer plötzlich in seiner Wohnung schwer erkrankt. Wir brauchen einen neuen Weg, die erste, wirkliche Wirklichkeit ernst zu nehmen, in der wir leben: Es ist die Wirklichkeit im Hier und Jetzt. Heute. An diesem Ort. Mit diesen Personen. Damit kann ich etwas anfangen. Mehr jedenfalls als mit denen, die mir für einige Minuten auf der Mattscheibe etwas vorspielen.
Statt mit denen, die einen umgeben, die wahre Welt zu teilen, sucht man lieber in den Medien die Bilder vom scheinbar richtigen Leben, die man schon immer dort angeboten bekommen hat. Ein durchschnittlicher Fernsehkonsum von drei bis vier Stunden pro Werktag besagt ebenso wie die Frage der Menschen beim ersten persönlichen Kontakt zu mir, ob wir im Kloster fernsehen: Wer nicht fernsieht, nimmt nicht teil an der Wirklichkeit. Oder noch kürzer: Ohne Medien kein Mensch!
In der kleinsten Studentenbude ist immer noch genug Platz für einen Fernseher. Für manche überdimensionalen Plasmabildschirme muss wahrscheinlich erst noch die richtige Wohnung gebaut werden. Dass die Besitzergreifung des persönlichen menschlichen Lebensraums durch das Medium Fernsehen zum Begriff des Hausaltärchens führte, spricht Bände. Perfide Strategien sollen uns zwingen, andächtige Zuschauer zu bleiben. Der Filmabspann ganz klein neben dem Bildschirmfenster mit dem Anfang des nächsten Films ist da nur eine der leichtesten Übungen. Schlimmer wird es, wenn per Fernseher gezeigt wird, wovor man einst die Augen züchtig verschloss. Ich sehe schon kommen, wie der Fernseher bald nicht nur Nahseher, sondern auch Nacktseher getauft werden wird. Im digitalen Kanal findenSie dafür heute schon die ekelhaftesten Gründe. Es scheint kaum noch jemanden zu stören, dass sich dort Menschen schlicht und ergreifend gegen alle hohen Lieder von der Würde zur Befriedigung niedriger Gefühle anbieten. Oder es werden Geschäfte mit der Angst gemacht in Ratgebersendungen, die diesen Namen nicht wert sind. Aber das übersieht die Gesellschaft der Kurzsichtigen leicht. Sie bezahlt ja auch am liebsten für die Zeitung, die Tag für Tag die unsittlichsten Entblößungen zeigt, um auf derselben Seite den Sittenstrolch zur Jagd freizugeben, selbstverständlich mit einem Foto aus dessen Familienalbum. Niemand sieht da einen Zusammenhang. Wir sind eben doch so blöd!
Aber auch was klare Bewertungen angeht, vertrösten wir uns gern auf morgen. Wir haben keine Zeit, heute zu handeln, weil wir vor lauter Bildern, die uns vom Heute gemacht werden, nicht
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