Das Leben in 38 Tagen
inwieweit dieser Weg die
eigenen Erwartungen erfüllt hatte und ob man durch die vielen Schritte, die
hinter uns lagen, auch bei den eigenen Problemen einen Schritt vorangekommen
war.
Ich
für meinen Teil war froh, morgen in Santiago anzukommen. In mir spürte ich
Freude auf zu Hause und neuen Elan, mein Leben wieder in die Hand nehmen zu
können. Ich hatte kein Bedürfnis, auch nur einen Schritt weiter zu laufen als
nötig. Nein, ich wollte nach Hause, ich hatte wirklich das Gefühl, mein Ziel
erreicht zu haben. Ich wusste, dass zu Hause liebe Menschen auf mich warteten,
und freute mich darauf, sie wiederzusehen und alles zu erzählen. Dabei musste
ich erst einmal die vielen Eindrücke sortieren, aber mein Herz war erfüllt von
Freude und Dankbarkeit!
An
diesem Abend, dem letzten vor unserem großen Ziel, empfand ich alles anders als
sonst. Kaum einer wollte wie sonst üblich schon um 22.00 Uhr schlafen. Die
Nachtruhe schien hier auch nicht streng geregelt zu sein, denn vor den Baracken
spielte sich heute ein richtiges kleines Nachtleben ab. Die Pilger flanierten
die großen Treppen hinauf und hinunter oder saßen und standen in kleinen
Gruppen zusammen.
Alle
schienen die besondere Stimmung und Erwartung des letzten Tages zu spüren und
wollten diese innere Erregung mit den anderen teilen. Wir fühlten uns wie
Eroberer und Entdecker oder zumindest wie Sportler nach einem schweren, langen
Wettkampf. Wir waren glücklich, schwatzten und lachten mit allen möglichen bekannten
und unbekannten Menschen und auch Sonja vergaß langsam durch die allgemeine
Freude ihren Ärger.
Bei
den allgemeinen Gesprächen lernten wir auch eine etwas ältere Frau aus Bayern
kennen, die während ihres Pilgerweges ein Wandbild für die Kathedrale in
Santiago geknüpft hatte. Ganz stolz erzählte sie uns, dass morgen extra der
Bürgermeister ihres Ortes nach Santiago kommen würde, um bei der Überreichung
dieses Bildes in der Kathedrale dabei zu sein. Sie hätte auch schon Altardecken
für den Papst im Vatikan geknüpft, nachdem sie selbst den Kontakt dorthin
gesucht hätte. Ein Wandbild während der Pilgerreise anzufertigen und dann der
Kathedrale in Santiago als Geschenk zu geben, war schon lange ihr besonderer
Traum gewesen. Nun hatte sie beides geschafft, den Weg und das Bild, und ihr
glückliches Gesicht sprach Bände, als sie uns ihr Werk, das wirklich sehr schön
war, zeigte.
30.
„Das Ende ist mein Anfang“ Tiziano Terzani
Es
war eine laue Nacht und über uns leuchtete passend zu unserer Ankunft ein Meer von
Sternen am dunklen Himmel. Einige Pilger liefen ein Stück in Richtung Santiago,
um diesen besonderen Ausblick bei Nacht noch einmal zu genießen. Santiago de
Compostela - das bedeutete auch wörtlich übersetzt „Stadt unter dem
Sternenfeld“. Die Milchstraße hatte uns über den Camino Francés, den Hauptweg,
bis hierher geführt. War es der Sternenhimmel, der die feine Linie bis hierher
gezogen hatte, waren es die Römer, die Spanier oder Karl der Große, dem Jakobus
im Traum erschienen war, um ihn zu bitten, nach Santiago zu pilgern?
Wir
waren auf den Spuren großer Vergangenheit gelaufen und nun waren unsere Spuren
selbst zu einem Stück Vergangenheit geworden. Wie ein Staubkorn im Universum
fühlte ich mich plötzlich und dieses Gefühl erinnerte mich an den Beginn meiner
Reise, als ich allein oben am Pass Puerto del Perdón stand, wo sich der Weg der Sterne und der Weg der Winde trafen. Dort war ein
großes Metalldenkmal aus überlebensgroßen Pilgerfiguren der verschiedenen
Jahrhunderte errichtet worden, die in einem langen Zug hintereinander
herliefen. Dort wie hier schien man den Geist und den Zusammenhang von
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu spüren. Irgendwie schien alles zu
verschmelzen. So wie ein Schritt sich auf dem anderen aufbaut, bis man am Ende
eines Weges ankommt, so kann sich die Gegenwart nur auf der Vergangenheit
aufbauen und die Zukunft nur auf der Gegenwart. Manchmal möchte man etwas
überspringen, etwas vergessen, aber es ist trotzdem vorhanden, wie Energie, die
nicht verloren gehen kann...
Vielleicht
ist das die wichtigste Erkenntnis dieses langen Weges für mich: Die Lösung
aller Probleme besteht nicht darin, dass man diesen Weg geht und danach
plötzlich weiß, was richtig ist. Der Schlüssel liegt vielleicht in den vielen
kleinen Schritten, die Geduld, Vertrauen und Mut erfordern. Im ständigen
Weitergehen und dem damit verbundenen unabänderlichen, immer
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