Das Leben in 38 Tagen
begeistern.
Vielleicht war die Arbeit doch nicht anspruchsvoll genug für sein Studium oder
er verdiente zu wenig Geld oder es war einfach schon zur Gewohnheit geworden...
Der
Herbergskomplex stellte fast schon eine eigene kleine Stadt dar, die aus
mehreren Baracken und Flachbauten bestand und am Hang lag. Es gab Geschäfte,
Restaurants, eine Post und eine Bank. Die Acht-Bett-Zimmer waren einfach und
ordentlich. Ich fand es schön hier. Es erinnerte mich an die Ferienlager meiner
Kindheit. Überall lagen und saßen die Pilger auf den Wiesen, schrieben ihre
letzten Aufzeichnungen, dösten oder schwatzten. Manche waren schon in Santiago
gewesen und schliefen hier bereits die zweite Nacht, weil es in der Stadt
selbst relativ wenige Herbergsplätze gab und man hier zwei bis drei Nächte
bleiben konnte. Ich machte mir deswegen keine Sorgen. Irgendetwas würde ich
schon finden. Vor der Kathedrale sollten immer Privatpersonen stehen und
Übernachtungen anbieten und ich hatte ja auch noch mein Herbergsverzeichnis mit
Telefonnummern!
Sonja
wollte nicht in Santiago schlafen. Sie hatte gehört, dass das Wetter schlechter
werden sollte, wo sie doch so gern im Meer baden wollte. Darauf hatte sie sich
schon die ganze Zeit gefreut. Am liebsten gleich morgen! Für sie sollte das der
Höhepunkt der Reise sein und nicht die Messe in der Kathedrale. „Ich gehe da
nicht mit hin!“, sagte sie plötzlich, als ich wie selbstverständlich davon
sprach, „nein, ich gehe nie in die Kirche, warum sollte ich das hier tun? Ich
fahre lieber gleich mit dem Bus zum Kap Finisterre, wenn ich meine Urkunde
habe. Dann kann ich noch im Meer baden, da habe ich mehr davon!“
Höchst
erstaunt, dass ein Pilger, der die gesamte Strecke gelaufen ist, nicht an der
berühmten und bestimmt ergreifenden Pilgermesse am Ziel der Reise teilnehmen
wollte, versuchte ich sie vom Gegenteil zu überzeugen. „Denk doch mal darüber
nach, wen wir da alles treffen werden. Du weißt doch, dass sich alle Pilger zu
dieser Messe verabreden. Das gehört doch einfach zum Abschluss dazu, meinst du
nicht?“ Sonja war noch nicht überzeugt, am liebsten wäre sie gleich noch nach
Santiago gelaufen. Nur die Ungewissheit, ob sie heute noch einen Bus bis zum
Kap Finisterre bekommen würde, hielt sie wohl davon ab.
Den
Abend verbrachten wir in einem der beiden riesigen Speisesäle und anschließend
mit einer Flasche Wein draußen auf den Bänken. Wir trafen Gerold mit zwei
anderen Frauen und Sonja ließ sich unglücklicherweise auf eine Diskussion über
die unterschiedliche Lebenssituation in den alten und neuen Bundesländern ein.
Es war, als hätte man Öl in das Feuer gegossen. Gerold hatte seine Meinung, auf
der er beharrte, und Sonja ihre. Ich versuchte, zu vermitteln, während die
anderen beiden Frauen gar nichts mehr sagten. Zum Schluss stand Sonja auf und
ging, weil sie „das dumme Gequatsche der ,blöden Wessis’, die keine Ahnung von der Wirklichkeit im Osten haben, nicht mehr
ertragen konnte.
Nun
war mir endgültig klar, warum Sonja gern mit mir zusammen sein wollte; nämlich
weil ich auch ein „Ossi“ war. Ich mochte es auch nicht leiden, wenn bestimmte
Leute die Meinung vertraten, dass es dem Westen nach dem Mauerfall deshalb
wirtschaftlich schlechter ginge, weil man den Osten zu viel unterstützen würde.
Sicher
hätte manches anders laufen können, wären manche Fehler vermeidbar gewesen,
wenn man nicht einfach das eine System dem anderen übergestülpt hätte. Aber
insgesamt sollten alle froh und auch stolz sein, dass diese Änderung der
Gesellschaftsordnung ganz ohne Blutvergießen ablief. Damit könnten wir
eigentlich als Deutsche ein Vorbild für die Welt sein oder zumindest den
schlechten Ruf, den die Nazizeit uns eingebracht hat, wieder etwas positiver
gestalten.
Ich
glaube, das meiste Verständnis füreinander bringen die Menschen auf, die sich
auch für die Vergangenheit, die Umgebung und die Lebensumstände der jeweils
anderen interessieren und bereit sind, ohne Vorurteile sich einmal vor Ort
umzusehen. Dies gilt für beide Seiten. Auch an den jungen Leuten kann man sich
hier ein Beispiel nehmen, denn für die meisten existiert nur ein Deutschland
und das ist gut so.
Sonja
hatte jedenfalls schlechte Laune, und ich bekam den Verdacht, dass es nicht nur
an der abgelaufenen Diskussion lag. Das Ende unserer Pilgerreise war absehbar
und die Gedanken an die Zeit danach ließen sich nicht mehr so einfach
verdrängen. Jeder musste nun für sich erkennen,
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