Das Leben ist eine Oeko-Baustelle
sinkender landwirtschaftlicher Erträge und von Millionen Klimaflüchtlingen würden zu ökonomischen Einbrüchen führen, wie wir sie nur von den Weltkriegen oder aus den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts kennen. Stern nennt den unkontrollierten Ausstoß von Klimagasen »das größte bekannte Marktversagen«.
Der Bericht in seiner kühlen, ökonomischen Sprache war deshalb so wichtig, weil er nicht mit Moral argumentierte, sondern mit Geldverdienen – und damit auch bei jenen ankam, die nur diese Sprache verstehen. Konkret rät Stern den Regierungen, den Ausstoß von Treibhausgasen kostenpflichtig zu machen. Ein Unternehmen zahlt für die Nutzung und Beschädigung der Umwelt genauso wie für die Nutzung eines gemieteten Gebäudes oder eines gekauften Rohstoffes. Wer viel Umwelt verbraucht, zahlt auch viel. Das würde die Unternehmen dazu bringen, weniger Umwelt zu verbrauchen. Solange die Umwelt das Unternehmen nichts kostet, sondern nur andere Menschen bezahlen, womöglich »nur« die Menschen in Bangladesch, nimmt man so viel Umwelt in Anspruch, wie man kriegen kann.
Zwar reden wir immer davon, dass Deutschland »Klimaweltmeister« sei und Europa der Staatenverbund, der mit gutem Beispiel vorangeht, und sorgen uns, ob »wir« nicht zu viel machen und die anderen zu wenig. Faktisch aber haben die Industrienationen und Musterdemokratien die schlechtesten Umweltbilanzen, und das gilt auch für Europa. Deutschland ist als Nationalstaat zwar nicht so weit zurück wie die USA, Australien oder Japan, aber unser realer individueller und gesellschaftlicher Lebensstil ist alles andere als vorbildlich für die Welt.
Klimaschutz und damit Zukunftssicherung: Geht das im Kapitalismus? Das ist eine der Fragen, die mich beschäftigen. Wenn ja, haben wir noch nicht wirklich versucht, herauszufinden, wie. Um die Lebensgrundlagen auch für unsere Kinder zu erhalten, müssen wir heute die Grenzen der Nutzung und Ausbeutung dieses Planeten anerkennen und damit auch die entsprechenden politischen Maßnahmen ermöglichen und mittragen.
2
Der Klimawissenschaftler: »Wie fühlen Sie sich als Kassandra, Anders Levermann?«
Anders Levermann ist Friedensnobelpreisträger. Na ja, sagt er, einer von 2 000. Das sind die Wissenschaftler, die am vierten Bericht des Weltklimarates IPCC mitgewirkt haben, das globale Gremium von Wissenschaftlern, das regelmäßig den Stand der Klimaforschung zusammenfasst, die Risiken der globalen Erwärmung beurteilt und Vermeidungs- und Anpassungsstrate gien vorschlägt. 2007 wurde das IPCC zusammen mit Al Gore mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Levermann ist promovierter Physiker und Professor für die Dynamik des Klimasystems am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, kurz PIK genannt. Spezialthema: Kippprozesse im Klimasystem, die Punkte, nach deren Überschreitung eine unumkehrbare Erderwärmung in Gang gesetzt würde. Konkret ist das etwa die Frage: Ab welcher Temperaturerwärmung schmilzt der grönländische Eisschild komplett und verschwindet und was passiert, wenn das passiert?
Und was macht er, damit es nicht passiert? Wie sieht er heute die Rolle des Klimawissenschaftlers? Wie erzieht er eigentlich seine Kinder? Das will ich wissen und fahre deshalb mit dem Regionalexpress von Berlin nach Potsdam, um ihn in seinem Institut auf dem Telegrafenberg zu besuchen. Die waldige Erhebung im Südwesten Potsdams ist seit den 1870ern ein Ort der Wissenschaft. Heute heißt das Gelände »Wissenschaftspark Albert Einstein«. Das einstige Hauptgebäude des astrophysikalischen Observatoriums heißt Michelsonhaus und ist heute das Hauptgebäude des Potsdam-Instituts.
Anders Levermann führt mich durch das Haus auf eine Aussichtsplattform, von der man direkt auf den Einsteinturm blickt; ein Observatorium, das 1922 in Abstimmung mit Albert Einstein errichtet wurde und die Gültigkeit von Einsteins Relativitätstheorie experimentell bestätigen sollte. Wir setzen uns dann drinnen in den Kuppelraum, und ich frage ihn: »Wie fühlen Sie sich als Kassandra, Herr Levermann?«
Er lacht. Das kennt er offenbar schon.
Die trojanische Königstochter sagte den Untergang Trojas voraus, aber niemand hörte auf sie. Sie galt in der Stadt als hysterisch, nicht weiter ernst zu nehmen. Am Ende ging Troja tatsächlich in Flammen auf, Kassandra wurde vom griechischen Sieger Agamemnon nach Mykene verschleppt und dort von dessen Frau Klytämnestra genauso erdolcht wie Agamemnon selbst. Sie hatte auch das vorausgesehen.
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