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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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Straße nun schon gewunden und schmal, und zu beiden Seiten stiegen die Hügel an, golden in der Herbstsonne. Streckenweise führte sie einen der Höhenrücken entlang, und bis zum Horizont sah er die sanften Wellen, die die Erde schlug, die Felder mit ihren unterschiedlichen Braun- und Gelb- und Grüntönen und darüber ausgespannt einen endlosen blauen Himmel mit weißen Wolkentupfern darauf. Die Schönheit berührte Bob nicht.
    »Du große Scheiße«, murmelte er, als er in das Städtchen Wilson kam, zu dem das College gehörte. Er sagte es laut, um es richtig zu begreifen: »Hier arbeitet Jim. So kann’s kommen. Das ist kein Horrorfilm.« Aber genauso fühlte es sich an, Bob wurde die Empfindung nicht los. Es war etwas Ungutes an dieser kleinen Stadt mit der einen engen Hauptstraße – etwas extrem Ungutes. Fast meinte er all die verborgenen Blicke zu spüren, die dem roten Mietwagen auf seiner einsamen Fahrt durch die leeren Samstagnachmittagsstraßen von Wilson folgten.
    Die Wohnung seines Bruders lag nicht weit vom Campus entfernt. Das Haus war in den Hang gebaut, und um zur Haustür zu gelangen, musste man viele steile Holzstufen hinaufsteigen. Bob drückte den Klingelknopf und wartete lange, ehe sich drinnen endlich Schritte näherten.
    Jim öffnete die Tür nicht ganz und blieb dahinter stehen. Unter seinen Augen waren bläuliche Ringe, und er trug ein Sweatshirt ohne Hemd darunter; die Sehnen an seinem Hals zeichneten sich ab wie Stricke, das Schlüsselbein trat scharf vor. »Hi«, sagte Jim mit einem lakonischen Heben der Hand. Bob folgte ihm über die mit fleckiger Auslegeware bedeckten Stufen nach oben, den Blick auf die schmutzigen Socken seines Bruders gerichtet, seine schlackernde Jeans. Hinter einer Tür auf dem Treppenabsatz drang eine abgehackte fremdländische Stimme hervor und dazu ein beißend süßlicher Geruch nach Knoblauch und Gewürzen, der in jeden Winkel kroch. Jim sah über die Schulter und zeigte aufwärts: Noch weiter hoch!
    In der Wohnung ließ sich Jim auf eine grünkarierte Couch fallen und nickte zu einem Stuhl in der Ecke hinüber. Bob setzte sich auf die Kante. »Bier?«, fragte Jim.
    Bob schüttelte den Kopf. Die Wohnung wirkte lichtlos, trotz des großen Fensters hinter der Couch. Jims Gesicht sah grau aus.
    »Scheußlich, was?« Jim klappte eine Hansaplast-Schachtel auf, die neben einer Lampe stand, und brachte einen Joint zum Vorschein. Er leckte sich über die Fingerspitzen.
    »Jimmy … «
    »Wie geht’s dir, Bruderherz?«
    »Jimmy, du bist … «
    »Ich sag’s gleich, ich hasse es hier. Falls du vorhattest zu fragen.« Jim hob einen Finger, steckte sich den Joint zwischen die dünnen Lippen, fischte ein Feuerzeug aus der Hosentasche und ließ es klicken, inhalierte, hielt den Rauch. »Ich hasse die Studenten«, sagte er, ohne auszuatmen, »und den Campus, und diese Hütte« – jetzt stieß er den Rauch aus – , »und ich hasse die – keine Ahnung, Vietnamesen im Zweifel – unter mir, die ab sechs Uhr früh diesen elenden Fett- und Knoblauchgestank absondern.«
    »Jimmy, du siehst zum Fürchten aus.«
    Das überging Jim. »Grusliges Kaff, dieses Wilson. Heute ist Football. Aber glaubst du, man sieht jemanden? Die Dozenten wohnen über die Hügel verstreut, die Studenten in ihren Wohnheimen oder Verbindungshäusern.« Er zog wieder an seinem Joint. »Dreckskaff.«
    »Dieser Küchengeruch ist wirklich eine Zumutung.«
    »Jep. Kannst du laut sagen.« Jim sah verfroren aus. Er rieb sich den Arm und schlug die Beine übereinander. Den Kopf auf die Rückenlehne gelegt, blies er Rauch aus, starrte einen Moment lang zur Decke hoch, hob den Kopf und sah seinen Bruder an. »Schön, dich zu sehen, Bobby.«
    Bob beugte sich vor. »Verdammt, Jimmy. Hör mir zu.«
    »Bin ganz Ohr.«
    »Was machst du hier?« Der Grauschleier auf Jims Gesicht kam von den Bartstoppeln.
    »Vor mir selbst weglaufen«, sagte Jim. »Nach was schaut’s denn aus? Netter Campus, dachte ich, gute Studenten, neue Chance. Aber als Lehrer bin ich eine Niete, das ist die traurige Wahrheit.«
    »Magst du gar keine von den Studenten?«
    »Ich sag doch, ich hasse sie. Und weißt du, was? Sie wissen nicht mal, wer Wally Packer ist, nicht richtig. Ach, sagen sie, ist das der mit diesem Song? Für die ist er so eine Art Frank Sinatra, von dem Prozess haben sie nie gehört. Sie kennen nicht mal O.J. Simpson. Die meisten jedenfalls. Die haben damals noch in die Windeln geschissen. Sie wissen nichts, und es ist ihnen

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