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Das Leben und das Schreiben

Das Leben und das Schreiben

Titel: Das Leben und das Schreiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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auch das Berufsethos, das Tabbys Gedicht ausdrückte. Es besagte, dass das Verfassen von Lyrik (oder Prosa oder Essays) mit mythischen Offenbarungszuständen genauso wenig zu tun hatte wie mit dem Aufwischen des Bodens. In Eine Rosine in der Sonne (Originaltitel: A Raisin in the Sun ) gibt es eine Stelle, wo ein Mann schreit: »Ich möchte fliegen! Ich möchte die Sonne berühren!« Daraufhin antwortet seine Frau: »Zuerst isst du deine Eier.«
    In der Diskussion, die auf Tabbys Lesung folgte, wurde mir klar, dass sie ihr eigenes Gedicht verstand. Sie wusste ganz genau, was sie hatte ausdrücken wollen, und das war ihr größtenteils auch gelungen. Den heiligen Augustinus (354-430 n. Chr.) kannte sie, weil sie katholisch war und im Hauptfach Geschichte studierte. Die Mutter von Augustinus (die heilige Monika) war eine Christin, sein Vater ein Heide. Vor seiner Bekehrung strebte Augustinus nach Reichtum und jagte den Frauen nach. Danach kämpfte er unablässig gegen sein sexuelles Verlangen an. Er ist bekannt für das Stoßgebet des Lüstlings: »O Herr, mach mich keusch … aber erst morgen.« In seinen Schriften konzentrierte er sich auf das Ringen des Menschen, nicht mehr an sich selbst, sondern an Gott zu glauben. Und er verglich sich manchmal mit einem Bären. Tabby hat so eine Art, ihr Kinn zu senken, wenn sie lächelt. Dann sieht sie weise und unheimlich niedlich zugleich aus. Das tat sie damals und sagte: »Außerdem mag ich Bären.«
    Vielleicht ist der Lobgesang anschwellend, weil der Bär nur langsam erwacht. Das Tier ist kraftvoll und feinfühlig, wenn auch dünn, weil es sich im Winterschlaf befindet. Als Tabby um eine Erklärung gebeten wurde, sagte sie, man könne den Bär auch als Symbol für die beunruhigende, aber herrliche Neigung des Menschen verstehen, immer die richtigen Träume zur falschen Zeit zu träumen. Solche Träume sind schwierig, weil sie unpassend sind, aber sie verheißen etwas Wunderbares. Schließlich deutet das Gedicht an, dass Träume voller Kraft sind – der Bär ist stark genug, den Wind zu verführen, sein Lied, das Lied des Bären, zu einem im Netz gefangenen Fisch zu tragen.
    Ich will hier gar nicht beweisen, dass »Anschwellender Lobgesang« ein großes Gedicht ist (obwohl ich es für ziemlich gut halte). Mir geht es darum, dass es ein überlegtes Gedicht in einer verrückten Zeit war, ein Gedicht, das einer Auffassung vom Schreiben entsprang, die in meinem Herzen und meiner Seele nachhallte.
    An jenem Abend saß Tabby in einem von Jim Bishops Schaukelstühlen. Ich hockte neben ihr auf dem Boden. Während sie sprach, legte ich die Hand auf die warme Rundung ihrer bestrumpften Wade. Sie lächelte mich an. Ich lächelte zurück. Manchmal sind solche Dinge kein Zufall. Da bin ich mir fast sicher.

24
     
    Nach drei Jahren Ehe hatten wir zwei Kinder. Sie waren weder geplant noch ungeplant: Sie kamen zu ihrer Zeit, und wir freuten uns über sie. Naomi neigte zu Mittelohrentzündungen. Joe war zwar gesund, schien aber nie zu schlafen. Als Tabby bei ihm die Wehen bekam, saß ich mit einem Freund in einem Autokino in Brewer – aus Anlass des Memorial Day wurden drei Filme gezeigt, alles Horrorfilme. Wir waren mitten im dritten Film, DIE TOTENMÜHLE (Originaltitel: THE CORPSE GRINDERS) , und beim zweiten Sechserpack, als der Typ an der Kasse den Film mit einer Durchsage unterbrach. Damals hingen die Lautsprecher noch an Stangen. Wenn man parkte, nahm man sich einen und klemmte ihn sich ins Fenster. So dröhnte die Mitteilung des Kassierers über den ganzen Parkplatz: »STEVE KING, FAHREN SIE BITTE NACH HAUSE! IHRE FRAU LIEGT IN DEN WEHEN! STEVE KING, FAHREN SIE BITTE NACH HAUSE! IHRE FRAU BEKOMMT DAS KIND!«
    Als ich mit unserem alten Plymouth zum Ausgang fuhr, schmetterten ein paar Hundert Hupen einen ironischen Gruß. Viele betätigten die Lichthupe, sodass ich in ein flackerndes Lichtermeer getaucht wurde. Mein Freund Jimmy Smith lachte so heftig, dass er in den Fußraum des Beifahrersitzes rutschte. Dort blieb er die ganze Fahrt zurück nach Bangor glucksend zwischen den Bierdosen liegen. Tabby war ruhig und hatte bereits gepackt. Keine drei Stunden später gebar sie Joe. Er war eine leichte Geburt. In den nächsten fünf Jahren allerdings war es mit Joe dann weniger leicht. Aber er war ein Schatz. Beide waren Schätzchen. Selbst als Naomi die Tapete über ihrem Kinderbett abriss (vielleicht wollte sie aufräumen) und Joe auf die geflochtene Sitzfläche unseres Schaukelstuhls

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