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Das Leben und das Schreiben

Das Leben und das Schreiben

Titel: Das Leben und das Schreiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Gemeinschaftsanschlüsse für vier und sechs Haushalte des Verwaltungsbezirks Sticksville noch umeinander kümmerten. In der großen weiten Welt wurden junge Männer, die nicht zum College gingen, nach Übersee geschickt, wo sie in Mr. Johnsons Krieg ohne Kriegserklärung kämpfen mussten und oft genug in Särgen heimkehrten. Meine Mutter mochte Lyndons Krieg gegen die Armut (»Das ist der Krieg, in dem ich kämpfe«, sagte sie manchmal), aber nicht den in Südostasien. Als ich ihr sagte, dass es sich für mich vielleicht lohnen würde, wenn ich mich freiwillig für den Kriegsdienst melde, weil ich hinterher bestimmt ein Buch darüber schreiben könne, antwortete sie: »Sei nicht solch ein Dummkopf, Stephen. Mit deinen Augen wirst du als Erster erschossen. Und wenn du tot bist, kannst du nicht mehr schreiben.«
    Sie meinte es ernst: mit Herz und Verstand. Und ich beantragte daraufhin ein Stipendium, nahm einen Kredit auf und ging in der Weberei arbeiten. Mit den fünf, sechs Dollar pro Woche, die ich mit den Berichten über Bowlingturniere und Seifenkistenrennen beim Enterprise verdiente, kam ich ja nicht weit.
    Während der letzten Wochen auf der Lisbon High sah mein Tag ungefähr so aus: sieben Uhr aufstehen, um halb acht zur Schule, Schulschluss um zwei Uhr, um 14:58 Uhr die Karte in die Stechuhr im dritten Stockwerk von Worumbo schieben, acht Stunden lang Stoffe verpacken, um 23:02 Uhr wieder zur Stechuhr, gegen Viertel vor zwölf zu Hause, eine Schale Cornflakes essen, ins Bett fallen, und am nächsten Morgen aufstehen und alles ging wieder von vorn los. Ein paar Mal arbeitete ich Doppelschichten, schlief vor der Schule eine knappe Stunde in meinem 60er Ford Galaxy (der vorher Dave gehört hatte) und während der fünften und sechsten Stunde nach dem Essen im Erste-Hilfe-Raum.
    In den Sommerferien wurde es dann leichter. Zum einen wurde ich in die Färberei im Keller versetzt, wo es 15 Grad kälter war. Meine Aufgabe war es, schweren Mantelstoff violett oder marineblau zu färben. Ich schätze, es gibt noch immer Menschen in Neuengland, in deren Schränken Jacken hängen, die von meiner Wenigkeit gefärbt wurden. Es war nicht unbedingt mein schönster Sommer, aber immerhin konnte ich es vermeiden, von einer Maschine aufgefressen zu werden oder meine Finger mit einer der schweren Nähmaschinen zusammenzutackern, mit denen wir die ungefärbten Stoffballen zusammenhielten.
    In der Woche um den vierten Juli blieb die Weberei geschlossen. Angestellte, die seit fünf Jahren oder länger bei Worumbo arbeiteten, bekamen eine Woche bezahlten Urlaub. Wer noch nicht so lange dabei war, dem wurde die Arbeit in einer Putzkolonne angeboten, die das Gebäude von oben bis unten reinigen sollte, auch die Kellerräume, die zum letzten Mal vor vierzig oder fünfzig Jahren betreten worden waren. Ich hätte das Angebot bestimmt angenommen – das waren eineinhalb Schichten -, aber alle Positionen waren bereits längst besetzt, noch ehe der Vorarbeiter zu den Schülern kam, die die Fabrik im September sowieso verlassen würden. Als ich eine Woche später wieder zur Arbeit kam, erzählte mir einer der Männer aus der Färberei, ich hätte dabei sein müssen, es sei Wahnsinn gewesen. »Die Ratten da unten im Keller waren so groß wie Katzen«, sagte er. »Verdammt, wenn mal nicht ein paar so groß wie Hunde waren …«
    Ratten so groß wie Hunde! Wow!
    Eines Tages, gegen Ende meines letzten Halbjahres am College, Prüfungen absolviert und nichts zu tun, erinnerte ich mich an die Geschichte des Färbers mit den Ratten im Keller der Weberei (so groß wie Katzen, verdammt, wenn mal nicht ein paar so groß wie Hunde waren) und verfasste eine Kurzgeschichte mit dem Titel »Spätschicht« (Originaltitel: »Graveyard Shift«). Das war reiner Zeitvertreib an einem Nachmittag im Frühling, doch zwei Monate später kaufte das Herrenmagazin Cavalier die »Spätschicht« für zweihundert Dollar. Davor hatte ich zwei weitere Geschichten verkauft, aber sie hatten zusammen nur fünfundsechzig Dollar eingebracht. Jetzt hatte ich dreimal so viel verdient, und zwar auf einen Streich. Es verschlug mir tatsächlich den Atem. Ich war reich.

22
     
    Im Sommer 1969 bekam ich Arbeit als studentische Hilfskraft in der Bibliothek der Universität von Maine. Diese Zeit war schön und garstig zugleich. In Vietnam führte Nixon seinen Plan, den Krieg zu beenden, aus, der darin zu bestehen schien, den größten Teil Südostasiens mithilfe von Bomben in Schutt und

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