Das Leben Zimmer 18 und du
– und Bastian? Weg. Einfach weg. Verschwunden im Getummel von Depressiven.
Sicher auf seinem Zimmer, rede ich mir ein und drücke den Klingelknopf, der mir die Tür zur geschlossenen Station öffnen soll. Die nächste Mahlzeit, das Abendessen, findet in Gruppe B bereits um 17.15 Uhr statt.
Ich schaue auf die Uhr.
Kurz nach halb vier.
Genügend Zeit also, um mich vor dem Essen noch einmal hinzulegen. Die Erkältung scheint den letzten Funken Kraft aus meinen Knochen gezogen zu haben. Zeit, sich auszuruhen.
Doch während ich mich auf mein Bett fallen lasse und an die Decke starre, nistet sich die Furcht in altvertrauter Hinterlistigkeit in meinem Kopf ein.
Ich habe noch immer Angst vor der neuen Gruppe, auch wenn ich nach wie vor bei Hanna auf der alten Station übernachten darf. Die Angst vor den neuen Menschen und Therapien wächst jedoch stetig.
Ein Windhauch schleicht sich durch das angewinkelte Fenster. Ich höre mir selbst beim Atmen zu.
Ein.
Aus.
Ein.
Aus.
Der Gedanke an die eisblauen Augen wird wach.
Bastian.
Zumindest ihn werde ich beim Abendessen in der neuen Gruppe wiedersehen.
Ob er mich überhaupt wahrgenommen hat?
Irgendwann schlafe ich ein.
Als mich mein Handy weckt, ertappe ich mich bei der Vorfreude auf das Vollkornbrot. Irgendwie hat das krankenhaustypische Essen fast schon etwas Charmantes an sich. Oder sind die eisblauen Augen der Grund für meine Vorfreude?
Mein Elan reicht zwar nicht für eine optische Generalüberholung, aber zumindest gönne ich mir ein Zopfgummi und etwas Eyeliner, was verglichen mit meinem Zustand der letzten Tage fast schon einem Makeover in Hollywood-Manier gleichkommt.
Ich betrachte mich ein letztes Mal im Spiegel.
Ist das dasselbe Leuchten in den Augen, das man mir immer nachsagte? Strahle ich noch immer so wie früher? Und wenn jetzt jetzt ist, wann ist dann früher? Vor einem Jahr? Vor zwei Jahren? Oder fünf?
Seufzend schließe ich die Badezimmertür und verlasse mein Zimmer. Hanna ruft mir zu, dass ich gut aussehe. Nett von ihr. Finde ich.
Aber Hanna ist so. Und deshalb kann ich mir vermutlich nicht allzu viel darauf einbilden.
Am Schwesternstützpunkt angekommen, betätige ich wie gewohnt den Klingelknopf. Mit monotonem Kopfnicken öffnet die Schwester die Tür, die mir surrend den Übergang auf die offene Station ebnet.
Abendessen.
In der Gruppe B scheint man den Patienten trotz der Tatsache, dass sich hier die „Stabileren“ befinden, nicht dieselbe Selbstständigkeit zuzutrauen wie der Gruppe A. Als ich mein Tablett aus dem Wagen holen möchte, bemerke ich, dass es bereits auf dem gedeckten Tisch steht. Auf einem Platz, den irgendjemand für mich festgelegt hat. Eine Tatsache, die mich mehr stört als der geschmacklose Kräuterquark. Fremdbestimmung nervt. Und mich ganz besonders.
„Wir haben hier einen Tischdienst. Zwei von uns decken den Tisch auf und wieder ab“, erklärt mir Teresa, die so etwas wie das Sprachrohr der Gruppe zu sein scheint. Später erfahre ich, dass sie die Gruppenleiterin ist. Ein Amt, das jede Woche neu gewählt wird.
Ich setze mich auf den Stuhl vor dem Tablett mit meinem Namen. Mein Blick wandert zu den anderen Tabletts, auf denen in fast schon symbolischer Anordnung Papierschnipsel liegen. Ein Ritual, das ich von diesem Moment bis zum letzten Tag meiner Anwesenheit nicht verstehen werde: Das Durchreißen des Namensschildes. Ich frage mich, was genau passiert, wenn ich das Namensschild nicht durchreiße und es einfach auf dem Tablett liegen lasse, sobald es wieder in den Wagen geschoben wird. Aber ich unterdrücke die Frage, weil sie schlichtweg dämlich ist – wenn auch nicht viel dämlicher als die Papierschnipsel auf dem Tisch.
„Ich bin ziemlich erkältet“, hauche ich über den Tisch, „ich hoffe, ich stecke niemanden an.“
Irgendjemand lächelt mir aufmunternd zu. Dann wird gegessen. Schweigend und diszipliniert. In einem Rhythmus, der an Fließbandarbeit erinnert. Eine Hand zum Mund, eine Hand zum Tisch, eine Hand zum Mund, eine Hand zum Tisch. Eine Hand zum …
Ich seufze lautlos. Ich vermisse die Unbefangenheit der Gruppe A, in der sich Depressionen mit anderen psychischen Störungen den Platz am Tisch teilen. Unruhe und Verrücktheiten, die zumindest eines tunlichst vermeiden: Routine.
Erst jetzt bemerke ich, dass meine Angst vor der neuen Situation einen Gedanken vollkommen ausgeblendet hat: Den Gedanken an Bastian.
„Wo ist eigentlich der andere Patient?“, frage ich so beiläufig
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