Das Leben Zimmer 18 und du
des Raumes für einen Moment aus.
Plötzlich bereue ich es, dass ich mir die Haare nicht zusammengebunden oder wenigstens etwas Lidschatten aufgelegt habe. Aber wer rechnet schon damit, in der Depressionsrunde ein derart interessantes Gegenüber anzutreffen? Und was noch viel wichtiger ist: Wer rechnet damit, dass es mich interessiert, dass ich solch einem Gegenüber begegne? Nach all der Emotionslosigkeit der letzten Wochen, nach all dem Desinteresse für meine Mitmenschen?
Wie es das Schicksal will (und das Schicksal will scheinbar so einiges), sind es genau der Eisblaue und ich, die zum ersten Mal in der Runde dabei sind, während die schätzungsweise sieben anderen Teilnehmer bereits alte Hasen im Depressionsrundengeschäft zu sein scheinen. Demzufolge sind auch wir zwei diejenigen, die sich zuerst vorstellen sollen. Damit man uns kennenlernt, erklärt uns Frau Geiss.
Kennenlernen.
Ja. Eine gute Idee.
Und von einem Moment auf den anderen bekommt das Eisblau einen Namen, ein Alter und eine Geschichte.
Bastian, 50 Jahre alt, Witwer.
Er schildert sein Schicksal in der Kurzfassung.
Ein Jahr ist es her, dass er seine Frau verloren hat, nur drei Tage später wurde ihm das Haus weggenommen und beinahe hätte er auch seinen letzten Lebensinhalt, seine drei Hunde, verloren.
Trotzdem jammert er nicht. Er nennt die Dinge einfach nur beim Namen, damit man versteht, warum er hier ist und wie es zu alledem kam, auch wenn es gerade Letzteres ist, das er selbst noch immer nicht wirklich begreifen kann. Schließlich habe er doch alles, was er braucht. Eine fürsorgliche Familie, Freunde, die für ihn da sind. Einen Sportverein, einen interessanten Job.
„Am wohlsten fühle ich mich aber bei meinen Hunden“, sagt er, während er den Blick durch die ausdruckslose Menge schweifen lässt. „Wenn ich mit ihnen zusammen bin, bin ich glücklicher als in einem Raum voller Menschen.“
Jeder weiß, dass er damit auf diese Runde anspielt. Diese Runde voller einsilbiger Patienten, die penibel darauf achten, kein Wort zu viel zu sagen.
Die Liebe zu seinen Hunden, die allein im Aufblitzen seiner Augen deutlich wird, imponiert mir. Ich treffe selten jemanden, der meine extreme Tierliebe teilt. Die Liebe zu Tieren, die einem nicht selten wichtiger ist als mancher Mitmensch.
Frau Geiss bedankt sich bei Bastian und mustert mich mit erwartungsvollem Blick.
„Mein Name ist Nancy Salchow“, beginne ich und wie so oft seit meiner Einweisung erzähle ich von meinem Bruder Martin, von meiner Mutter und meiner Angst, selbst an Krebs zu erkranken. Von meiner Flucht in die Worte, die mich abgelenkt hat. Von meiner Trauer und der Angst vor der Angst.
Wieder kann ich meine Tränen nicht zurückhalten. Ich spüre Bastians Blick im Augenwinkel. Meine Geschichte scheint ihn ebenso zu bewegen, wie mich seine berührt hat.
In diesem Moment wird mir bewusst, dass der Gedanke, in die Gruppe B zu wechseln, plötzlich gar nicht mehr so bedrohlich ist. Immerhin ist mir jetzt zumindest ein Mitglied der Gruppe bekannt, das ich gern näher kennenlernen möchte. Jemand, zu dem ich, ohne ein Wort mit ihm gesprochen zu haben, schon jetzt einen ganz besonderen Draht spüre. Fast so, als würden wir das Schicksal des jeweils anderen teilen. Zudem ist er der Einzige in der Depressionsrunde – das wird mir nach den Vorstellungen der anderen Teilnehmer bewusst –, dessen Krankheitsursprung ebenfalls im Verlust eines geliebten Menschen liegt.
Während ich den anderen Teilnehmern zuhöre, wird mir umso klarer, dass Bastian und ich die einzigen Menschen in der Gruppe sind, die kein Problem damit haben, vollkommen offen über ihre Krankheit zu reden. Manche der Patienten reden kaum etwas, wieder andere versuchen es, haben aber immer wieder Hemmungen, vollkommen aus sich herauszugehen. Bastian und ich jedoch scheinen die Fähigkeit des offenen Redens miteinander zu teilen. Ein Umstand, der meine Angst vor der Gruppe B zusätzlich schmälert. Endlich habe ich jemanden gefunden, von dem ich schon jetzt weiß, dass wir uns verstehen werden.
Wenn ich heute zurückschaue, scheint es verrückt, aber schon in diesem Moment spüre ich diese ganz besondere Verbindung zu ihm. Ich fühle, dass ich ihm meine Gedanken zur Krankheit anvertrauen kann. Dass er versteht, was ich denke und durchmache. Und dass ich verstehe, was in ihm vor sich geht.
Doch meine ersten Anflüge unangebrachter Illusionen verpuffen, als die Stunde vorbei ist. Die Depressionsrunde löst sich auf
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