Das lebendige Theorem (German Edition)
ist die Landau-Dämpfung vertraut, aber für die Mathematiker bleibt dieses Phänomen ein Rätsel.
Im Dezember 2006 befand ich mich in Oberwolfach in einem legendären Institut, verloren im Herzen des Schwarzwalds, ein Rückzugsort, wohin die Mathematiker in einem endlosen Reigen kommen und gehen, um über die verschiedensten Themen zu sprechen. Türen ohne Schlösser, freie Getränke, kleine Holzkisten, in die man das Geld legt, Kuchen in Hülle und Fülle, Tische, wo die Gäste sich an einen durch das Los ausgewählten Platz setzen müssen.
An diesem Tag in Oberwolfach hatte das Los mich an denselben Tisch wie Robert Glassey und Eric Carlen gesetzt, zwei amerikanische Experten für mathematische Gastheorie. Am Abend zuvor hatte ich bei der Eröffnung der Konferenz stolz eine Fülle neuer Ergebnisse präsentiert; und am selben Morgen hatte uns Eric ein fesselndes und vor Ideen übersprudelndes Exposé serviert, über das wir bei der dampfenden Suppe immer noch sprachen. All das zusammen war ein bisschen zu viel für Robert, der sich alt und nicht mehr up to date fühlte und stöhnte: »Time to retire« …
Eric protestierte lauthals: Warum in Rente gehen, wo es doch für die Gastheorie nie aufregendere Zeiten gegeben hat! Auch ich protestierte: Warum in Rente gehen, wo wir doch die Erfahrung, die Robert in den fünfunddreißig Jahren seiner Laufbahn angesammelt hat, so dringend brauchen!
– Robert, erzähle mir von dem rätselhaften Landau-Dämpfungseffekt, kannst du das erklären, gibt es den wirklich?
– Weird, strange waren die Worte, die in Roberts Antwort vorkamen. Ja, Maslov hat darüber gearbeitet; ja, es gibt das Paradoxon der Reversibilität, das mit der Landau-Dämpfung unvereinbar zu sein scheint; nein, es ist unklar. Eric hatte vorgeschlagen, dass diese Dämpfung ein Hirngespinst sei, die der fruchtbaren Phantasie der Physiker entsprang, ohne Hoffnung auf eine mathematische Formulierung. Ich habe kaum irgendwelche Informationen aus diesem Gespräch gezogen und habe es in einer Ecke meines Gehirns archiviert.
Jetzt schreiben wir das Jahr 2008, und ich weiß nicht mehr als 2006. Aber Clément hatte seinerseits Gelegenheit, lange darüber mit Yan Gao, dem »kleinen wissenschaftlichen Bruder« von Robert, zu sprechen – sie hatten denselben Doktorvater. Das Grundproblem, sagte Yan, besteht darin, dass Landau nicht über das ursprüngliche Modell, sondern über ein vereinfachtes, linearisiertes Modell gearbeitet hat. Niemand weiß, ob seine Arbeiten auch für das »wahre«, nichtlineare Modell gelten. Yan findet dieses Problem faszinierend, und er ist nicht der Einzige.
Yan Guo
Könnten Clément und ich uns daran wagen? Warum nicht. Aber um das Problem zu lösen, müssen wir zunächst genau wissen, wie die Frage lautet! In der mathematischen Forschung ist die deutliche Zielsetzung ein erster entscheidender und heikler Schritt.
Was auch immer dieses Ziel sein mag, das Einzige, dessen wir uns sicher sind, ist der Ausgangspunkt: die Wlassow-Gleichung
die mit ausgezeichneter Genauigkeit die statistischen Eigenschaften von Plasmen bestimmt. Der Mathematiker kann, wie die arme Lady von Shalott aus der Artussage, die Welt nicht direkt betrachten, sondern nur durch ihr Spiegelbild, das in diesem Fall ein mathematisches ist. Also müssen wir Landau in der Welt der mathematischen Ideen, die allein von der Logik regiert wird, stellen …
Weder Clément noch ich haben jemals über diese Gleichung gearbeitet. Aber die Gleichungen gehören allen, und wir werden uns die Ärmel hochkrempeln.
*
Lew Davidowitsch Landau, russischer Jude, geboren 1908, Nobelpreis 1962, ist einer der größten Physiker des 20. Jahrhunderts. Vom Sowjetregime verfolgt, aus dem Gefängnis dank der Selbstlosigkeit seiner Kollegen befreit, war er auch ein Tyrann der theoretischen Physik seiner Zeit und zusammen mit Jewgeni Lifschitz Autor einer Vorlesung, auf die man sich heute noch bezieht. Seine grundlegenden Beiträge kommen in allen Arbeiten der Plasmaphysik vor: zuerst die Landau-Gleichung, die kleine Schwester der Boltzmann-Gleichung, die ich jahrelang während meiner Dissertation studiert habe; und dann die berühmte Landau-Dämpfung, die eine spontane Stabilisierung von Plasmen nahelegt, eine Rückkehr zum Gleichgewicht ohne Entropiezunahme im Gegensatz zu den Mechanismen, die die Boltzmann-Gleichung regieren.
Gasphysik, Boltzmannphysik: Die Entropie nimmt zu, die Information geht verloren, der Zeitpfeil ist am Werk, man
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