Das lebendige Theorem (German Edition)
eine Institution für sich ganz allein. Als streitbarer Provinzbewohner hat er sich seit zwanzig Jahren der Entwicklung des Labors für Mathematik an der Ecole Normale Supérieure von Lyon gewidmet, zu dessen Verwandlung in eines der besten Zentren für Geometrie auf der Welt er mehr als jeder andere beigetragen hat. Ebenso mürrisch wie charismatisch hat Étienne immer zu allen Themen etwas zu sagen.
Étienne Ghys
– Die Abbildungen, die Freddy und ich aufgezeichnet haben, kennst du?
– Ja, diese hier findet man in der KAM-Theorie wieder. Und auch diese hier habe ich schon gesehen …
– Hast du eine gute Quellenangabe?
– Ja, nun eben KAM, weißt du, das findet man überall ein bisschen: Du gehst von einem vollständig integrierbaren, quasiperiodischen dynamischen System aus, du störst es ein bisschen, es gibt zwar ein Problem mit kleinen Teilern, das bestimmte Bahnen langfristig zerstört, aber trotzdem hast du eine Stabilität in Wahrscheinlichkeit.
– Ja, das kenne ich, aber die Abbildungen?
– Warte mal, ich werde für dich ein gutes Buch darüber finden. Aber es gibt viele Abbildungen, die in Kosmologiebüchern stehen und die man gewöhnlich auch in der Theorie dynamischer Systeme sieht.
Sehr interessant. Ich werde mich kundig machen. Wird mir das dabei helfen zu verstehen, was sich hinter der Stabilisierung verbirgt?
Das schätze ich vor allem in meinem Labor, das so klein und doch so leistungsstark ist: die Art und Weise, wie sich die Themen in den Gesprächen zwischen Forschern mit verschiedenem mathematischen Hintergrund um eine Kaffeemaschine herum oder in den Fluren miteinander vermischen, ohne dass man thematische Hindernisse zu befürchten bräuchte. Es gibt so viele neue Lösungsstrategien zu erforschen!
Ich habe nicht die Geduld zu warten, bis Étienne in seiner riesigen Sammlung eine Quellenangabe für mich findet, also hole ich, was ich kann, in meiner eigenen Bibliothek: eine Abhandlung von Alinhac und Gérard zur Nash-Moser-Methode. Ich habe dieses Werk schon vor einigen Jahren durchgeackert, und ich weiß, dass die Nash-Moser-Methode einer der tragenden Pfeiler der Theorie von Kolmogorow-Arnold-Moser ist, der sogenannten KAM, von der Étienne gesprochen hat. Ich weiß auch, dass hinter Nash-Moser das einzigartige Näherungsschema Newtons steht, jenes Schema, das mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit exponentiell-exponentiell konvergiert und das Kolmogorow auf so geistreiche Weise auszunutzen verstand!
Offen gestanden sehe ich keine Verbindung zwischen all diesen schönen Dingen und meinem Problem der Landau-Dämpfung. Aber vielleicht ist Étiennes Intuition richtig? Schluss mit der Träumerei, ich stopfe das Buch in meinen Rucksack, der ohnehin schon so schwer ist, und beeile mich, um meine Kinder am Ausgang der Schule abzuholen.
Kaum bin ich in der Metro, ziehe ich ein Manga aus meiner Jackentasche, und einen kurzen und kostbaren Moment lang verschwindet die Außenwelt, um Platz zu machen für ein Universum voller übernatürlicher Chirurgen, die mit ihren geflickten Gesichtern übernatürlich geschickt sind, hartgesottener Yakuzas, die ihr Leben für ihre kleinen Mädchen mit den großen Rehaugen geben, grausamer Monster, die sich plötzlich in tragische Helden verwandeln, kleiner Jungen mit blonden Locken, die allmählich zu grausamen Monstern werden. Eine ungläubige und zärtliche, leidenschaftliche und desillusionierte Welt ohne Vorurteil oder Manichäismus, die vor Gefühlen trieft, berührt das Herz und lässt Tränen in die Augen des Lesers schießen, der bereit ist, das Spiel des Naivlings mitzumachen.
Station Hôtel de Ville, Zeit auszusteigen. Während der Fahrt sickerte die Erzählung in mein Gehirn und meine Adern wie ein kleiner Sturzbach aus Tinte und Papier, und ich fühle mich innerlich gereinigt.
Alle mathematischen Gedanken sind ebenfalls in den Pausemodus übergegangen. Mangas und Mathematik vermischen sich nicht. Vielleicht später, im Traum? Und wenn Landau nach dem schrecklichen Unfall, der ihn das Leben kosten sollte, von Black Jack operiert worden wäre? Ich bin sicher, dass der dämonische Chirurg ihn wieder völlig zum Leben erweckt hätte und dass Landau sein übermenschliches Werk hätte fortführen können.
Sieh an, ich habe nicht mehr an Étiennes Bemerkung und an diese Geschichte der Theorie von Kolmogorow-Arnold-Moser gedacht. Kolmogorow und Landau … was für ein Zusammenhang? Beim Aussteigen aus der Metro beginnt das
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