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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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Primenius, ebenfalls dem Oresteskreis angehörig, ebenfalls sich unter den Schutzschirm des Severinus begebend, weil vom neuen Herrscher Odoaker bedrängt, und man käme in Folge zu der Notwendigkeit zu erläutern, dass dieser Orestes gemeinsam mit des Odoakers Vater Edeka am Hofe Attilas gedient hatte, und dass Severinus wohl beide von dorther gekannt hätte, und dass von daher der rational nicht zu verstehende Einfluss des Heiligen Mannes auf den neuen Potentaten zu erklären sei, und man befände sich in der Zwangslage, auch noch auszuführen, dass es sich bei der illustris femina Barbaria, Bittstellerin für Ambrosius und ein paar Jahre später allem Anschein nach jene, die die Überstellung von Severinus’ Leichnam ins heimatliche Italien veranlasst und organisiert hatte, möglicherweise um die Witwe des Orestes handle, was den Schluss zulasse –
    Genug, sagte der Sprecher meiner Auftraggeber, lassen Sie es heraußen. Was gibt es sonst noch?
    Die seltsamen Wunder, sagte ich, der Mann mit der Elefantenkrankheit, was wahrscheinlich aber nicht die echte Elefantiasis war, sondern knotiger Aussatz, der durch Gebete geheilt wurde. Oder Bonosus der Barbar, Mönch im Mauterner Severinskloster, den ein chronisches Augenleiden praktisch blind machte, den der Heilige Mann schalt ob seines törichten Wunsches, in den Augen des Körpers scharfe Sehkraft besitzen zu wollen. Bonosus möge lieber vom Herrn erbeten, dass sein inneres Schauen belebt werde. Worauf der Barbar eine bewundernswerte Ausdauer im Gebet erwarb und, ohne je Überdruss zu empfinden, vierzig Jahre lang in glühendem Glauben betete. Oder all die Gestalten mit zaghaftem und zweiflerischem Glauben, die man für begrenzte Zeit dem Satan übergab, satanae in interitum carnis, dem Höllenfürsten auslieferte zwecks Abtötung des Fleisches. Da fuhr jeweils der Dämon in sie, manchmal für Monate, Eugipp schildert es lustvoll, danach waren sie geheilt, demütige und gehorsame Kinder der Kirche.
    Genug, genug, genug, sagte der Sprecher meiner Auftraggeber. Erwähnen Sie meinetwegen derlei Zeug, aber kurz, und nur dann, wenn es sich in Verbindung bringen lässt mit einem an der Doppellandesausstellung beteiligten Ort.
    Er legte auf. Die alten Fotos ergriffen wieder Besitz von mir. Graustichig gewordenes Papier, mehr ist das nicht, sagte ich mir vor, ich heiße zwar wie einer von denen da auf den Bildern, aber ich gehöre nicht zu ihnen. Immer geht es um die Zugehörigkeit. Meine Mutter war nie irgendwo zugehörig gewesen, der Robert, der hätte der feste Bezugspunkt werden sollen, aber mit dem Sterben des SS -Bruders war auch der Robert verschwunden und damit ihre Zugehörigkeit. Ihr Leben, letztendlich. Und sie hatte dieses ganze Leben durchlebt mit einem stillen, bescheidenen Vorwurf wegen des Vorenthaltens von Leben, ich wusste und weiß nicht, an wen sich dieser Vorwurf korrekterweise zu richten gehabt hätte, ich habe nur mein eigenes kaum gelebtes Leben lang geglaubt, ich sei der Adressat. Jetzt, im Kinderzimmer, dachte ich das erste Mal das gerade noch Undenkbare: Ich bin es nicht. Ich habe damit nichts zu tun. Ich habe ihr nichts vorenthalten.

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    Man muss zugeben, dass alles hinausläuft auf ein Desaster, ein völliges Desaster, letzten Endes, brummelte sie in den Polsterbezug, ich verstand sie kaum. Das Rezept wäre, sich damit abzufinden. Dann erst kannst du leben. Meine Mutter drehte den Kopf aus dem zerdrückten Leinen und sah an mir vorbei zur Krankenzimmertür, redete ununterbrochen weiter. Das Gemeine ist aber, dass man sich nicht abfinden kann. Und selbst wenn man es könnte, ist es eine Gemeinheit. Denn du musst alt werden, bis du endlich siehst, dass von vornherein alles auf dieses Desaster ausgelegt ist. Wenn du das akzeptierst und mit dir ins Reine kommst, bist du aber alt. Steinalt. Dann bleibt dir kaum noch Zeit zum Leben.
    Was meinst du mit Desaster? Welches Desaster?
    Das Sterben, nuschelte sie mit einer gruseligen Stimme, die davon herrührte, dass sie die Zähne nicht eingesetzt hatte.
    Im Auto, auf dem Weg von der Landesnervenklinik zu ihrer Doppelhaushälfte, läutete das Handy. Trixi verlangte ein Treffen. Ich warte auf dem Parkplatz vor diesem komischen Badesee zwischen Hartheim und Eferding, sagte sie. Es sei wichtig. Sie müsse mich etwas fragen, was ihr nicht leichtfalle, sie habe wirklich lange hin und her überlegt. Jetzt habe sie sich entschieden, ich müsse aber gleich kommen, sonst könne es sein, dass sie es sich doch noch

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