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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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Tätlichkeiten einen kurzen Fluchtweg zu haben. Danach platzten wir vor Stolz und Befriedigung. Wir, die Bauernbuben und Dorfdeppen, als die uns die Kraftwerksarbeiter bezeichneten, und zwar mit einer Derbheit, die mit dem Grad ihrer Alkoholisierung wuchs, hatten ihren Pöbeleien und Anflegelungen eine Stunde lang standgehalten.
    Die Ausflügler blieben aus nach ein paar Wochenenden, aber der Ausflugswirt machte das Geschäft seines Lebens in diesen Kraftwerksbaujahren, denn die Arbeiter soffen Bier und Most und Schnaps in Unmengen in sich hinein in ihren kurzen Freizeitstunden und produzierten einen Umsatz, der ein Vielfaches dessen ausmachte, was mit Schmalzbroten und Liptauerbroten und Bauernbroten mit abgekochtem Käse zu erreichen war. Die Arbeiter überschwemmten die Gaststube und im Sommer den Gastgarten mit ihrem Zigarettenrauch und ihrem Lärm, sie lachten und brüllten in allen österreichischen Dialekten, aber es war letzten Endes auch nur eine Sprachlosigkeit, es war nur Lärm, den diese trinkenden Arbeiter erzeugten, es kam nichts zur Sprache, und zwar umso weniger, je lauter die Stimmen wurden.
    Der Vorsitzende einer maoistischen Schülergruppe aus Linz hatte eine Cousine in einem Dorf in der Nähe der Kraftwerksbaustelle. Er führte in seiner Gruppe einen Beschluss herbei, der einige Überredungskunst erforderte. Diese große, unaufgeklärte Masse von Werktätigen musste aufgeklärt werden. An einem Freitagabend brachen sie auf mit dem Vorortbus zu ihrer Missionsreise, um die Arbeiter zu lehren und zu unterrichten und ihnen zu dem Bewusstsein zu verhelfen, das das ihre sein sollte. Eine Stunde vor dem Ende der Zwei-Zehner-Schicht trafen sie ein und begannen ihren Kampf, indem sie, geführt von der Cousine und uns, der Dorfjugend, durch die Felder zur Baustelle marschierten. Wie gut sie sich fühlten, als sie durch die schmalen Aupfade stapften, vorneweg die Cousine wie die Jungfrau Die Das Streitpferd Führt, gut sah sie aus in ihrem blitzblauen Minirock und blitzblauen langärmeligen Pullover, wie Uschi Obermaier im Film Rote Sonne , nur dass sie nicht verführerisch tanzte wie die süße Uschi, und hinter ihr die Befreiungskrieger, deren Mut und Kampfeslust anschwollen, während sie sich gegenseitig auf die Schönheit des Lichtermeeres aufmerksam machten, das die Tausenden Lampen der Baustellenbeleuchtung mitten im räudigen Augestrüpp aufblitzen ließen, und sich schließlich im Wirtshaus an einen Tisch am Rande setzten und eine Weile die Arbeiter beobachteten und versuchten, die Gespräche von möglichst vielen Tischen mitzubekommen. Der Vorsitzende wollte sich ein Bild machen über den Bildungsstand der hier im Bierdunst und Zigarettenrauch Versammelten.
    Als er der Ansicht war, genügend innerlich vorbereitet zu sein, holte er das kleine Büchlein mit dem knallroten Plastikeinband hervor und hob es hoch und begann die Worte des Großen Vorsitzenden aus dem fernen China über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volke vorzutragen, mäßig laut zuerst, bald aber bemerkten die Kraftwerksarbeiter, dass hier etwas Ungeheuerliches in Gang gekommen war, und sie schrien Schimpfworte zu uns herüber, und da begann der Vorsitzende der maoistischen hauptstädtischen Schülergruppe ebenfalls zu schreien, zu den Widersprüchen im Volke, brüllte er und klopfte zur Bekräftigung bei jedem zweiten oder dritten Wort mit zwei Fingern auf das Büchlein, zu den Widersprüchen im Volke gehören unter den gegenwärtig bestehenden Verhältnissen: Widersprüche innerhalb der Arbeiterklasse, Widersprüche innerhalb der Bauernschaft, Widersprüche innerhalb der Intelligenz, Widersprüche zwischen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft, Widersprüche zwischen Arbeitern und Bauern einerseits und der Intelligenz anderseits, Widersprüche zwischen der Arbeiterklasse und anderen Werktätigen einerseits und der nationalen Bourgeoisie anderseits, Widersprüche innerhalb der nationalen Bourgeoisie, und da wurden dann die Arbeiter so laut, dass wir nur noch Fetzen der Ausführungen des maoistischen Schülervorsitzenden verstehen konnten.
    Wir müssen mit Leib und Seele dem Volk dienen und uns auch nicht für einen Augenblick von den Massen lösen; wir müssen uns in allem von den Interessen des Volkes und nicht von den Interessen der eigenen Person oder kleiner Gruppen leiten lassen, brüllte der Schülervorsitzende, während das Volk in Form der beim Kraftwerksbau arbeitenden Massen begann, seine Genossen, die sich

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