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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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Diskurse auszulösen, die sich lustvoll und Nachfrage belebend ein Weile lang austragen lassen. Es gäbe der länderübergreifenden Landesausstellung möglicherweise ein wenig Glanz von Intellektualität und Welthaltigkeit. Doch wenn Sie eine Diskussion von und über Politisches auslösen, wissen Sie, dass Sie Ihren Auftrag versemmelt haben.

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    So hastig wie lustlos tippte ich den Report der letzten Wunder des Severinus in den Laptop. Voll Ungeduld saß ich vor dem Bildschirm, wollte endlich ans Ende kommen. Ans Ende der Vita des Heiligen Mannes, zu den Kapiteln, wo sich das Land entleert, weil das auf es Zukommende eine Zumutung ist und eine Unerträglichkeit. Nur noch hinausschreiben wollte ich mich aus diesem Land, wie Severinus die Bewohner der Donaugemeinden hinausgefegt hatte mit Wagemut und Kriegerschläue und Politikerumsicht. Das Weltreich zerfiel, der Prophet der nordischen Provinzen entfernte aus den eiskalten Landstrichen alles Welt-Reiche. Mit den Romanen verschwand alles. Das Land war leer nach erfolgreichem Abschluss seiner Mission. Am Ende verschwand auch der Leer-Macher selbst. Und ich, der ich gerade daran scheiterte, diese Vorgänge zu beschreiben, wünschte nichts mehr als mich diesem Land so zu entziehen, wie Severinus es geschafft hatte.
    Plötzlich ploppte Mitleid in mir hoch, so überraschend, dass es mich erschreckte. Mitleid mit dieser fremden Frau, die allein in ihrem Nervenklinikzimmer lag. Wieder wühlte ich in der Schuhschachtel mit den Fotos, auf der Stelle holten mich die Bilder ein, sie, und mein Vater neben ihr bei der Trauung, bei einem Ausflug in die Kirschengegend, er mit dem Beiwagenmotorrad, das er bald nach meiner Geburt aufgegeben hatte, sie mit ihren Brüdern, in seltsamer Kleidung die jungen Männer, eine Mischung aus ländlichen Hemden, Pfoad nannte man das, und Hosen und darüber Arbeiterjacken, dann die Onkel im Nazigewand, dann ich als Kleinkind, am ersten Schultag, bei der Erstkommunion.
    Eine fremde Frau ist auf diesen Schwarz-Weiß-Fotografien abgebildet, so fremd, obwohl ich sie jetzt so lange schon jede Nacht hören hatte können, wenn sie sich in ihrem Schlafzimmer auf der anderen Seite des Ganges im Bett gewälzt und dabei leise geächzt hatte. Eine fremde Frau in einem leeren Land. Ja, das war es. Sie und mein Vater und ihre Brüder und vor allem der eine Bruder, dessen Namen ich trage, sie stehen in den Fotos, als ob man sie dazugeklebt hätte, sie lächeln meistens, manchmal schneidet jemand Grimassen, aber sie schweben dabei seltsam losgelöst von dem sie Umgebenden.
    Es erstickte mich beinahe, die Mutter zu sehen in dieser Leere. Leer ist ihr Land seit Jahren sowieso, alle tot oder weggegangen, und sonst ist da nichts in diesem Dorf, nur Gebäude und Wiesen und Äcker und Straßen und Gehwege und Dinge und Menschen, an denen die Erinnerungen kleben wie sich nicht verfestigen wollender Teer an einem schwül-heißen Augustnachmittag. Sind einfach nicht abzukratzen von der Haut. Kleben und haften fest, die Erinnerungen, auch wenn man sich noch so sehr bemüht, sich nicht zu erinnern. Auch damals schon war das Land für sie leer gewesen, hatte ihr nichts zu bieten gehabt, kein Motiv für Dableiben und keine Zielpunkte für Fluchten.
    Ich rief den Sprecher meiner Auftraggeber an und informierte ihn, dass ich einige der Severinuswunder nicht in den Aufsatz nehmen würde, zu skurril schienen sie mir, oder so sehr nur aus ihrer Zeit heraus zu verstehen, dass es ohne – ihm und den Auftraggebern verhassten – ausführlichen Anmerkungsteil nicht gehen würde. Der freundschaftliche Brief von König Odoaker an den Heiligen Mann etwa, in dem der Herrscher dem Mönchlein einen Wunsch freistellte. Worauf Severinus um die Aufhebung der Verbannung eines gewissen Ambrosius bat. Das ist es dann schon wieder bei Eugipp. Was ist daran Wunder?, möchte man den Chronisten anbrüllen, wenn er greifbar wäre. Verstehen Sie?, sagte ich ins Handy, wenn man dieses Wunder, das so offensichtlich keines ist, in den Katalog hineinnehmen würde, müsste man erklären, dass es sich bei dieser von Eugipp in zwei Sätzen geschilderten Begebenheit um den stark verschlüsselten Bericht über hoch komplexe und verwickelte machtpolitische Gegebenheiten und Abläufe handelt.
    Besagter Ambrosius war ein politischer Gegner des Odoaker gewesen, gehörte zum Kreis des von Odoaker ermordeten Orestes, Vater des letzten Kaisers Romulus Augustulus, und erklärte man das, käme man gleich zum Presbyter

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