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Das letzte Einhorn

Das letzte Einhorn

Titel: Das letzte Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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Käfig!« sagte sie zu den beiden Männern, »sie wird bis zum Sonnenaufgang schlafen, und wenn ihr noch so viel Lärm macht – es sei denn, ihr stellt euch so blöd wie sonst an und berührt sie. Zerlegt den neuen Käfig und baut ihn um sie herum wieder auf, aber Vorsicht! Die Hand, die auch nur ihre Mähne streift, verwandelt sich augenblicklich in den Eselshuf, den zu sein sie verdient.« Sie sah den hageren Mann spöttisch an und krächzte: »Dein Hokuspokus fiele dir dann noch schwerer, Magier. An die Arbeit, es bleibt nicht mehr lange dunkel!« Als sie ein gutes Stück außer Hörweite war und schon in ihrem Wagen verschwand, als wäre sie nur herausgekommen, um die Stunde auszurufen, da spuckte Rukh aus und fragte aufgeregt: »Ich möcht’ nur wissen, wovor der alte Tintenfisch solche Angst hat? Warum sollen wir das Vieh nicht anfassen?«
    Die Antwort des Zauberers war beinahe unhörbar: »Die Berührung von Menschenhand würde es sogar aus dem Schlaf erwecken, in den es der Teufel persönlich versenkte – und Mammy Fortuna ist kein Teufel!«
    »Es wär’ ihr recht, wenn wir sie für einen hielten«, schnaubte der dunkle Mann. »Eselshufe, bah!« Er streckte beide Hände tief in die Taschen. »Was für ein Bann soll denn da brechen? Das ist doch nur ein alter weißer Gaul.«
    Der Zauberer ging schon zu dem letzten Wagen hinüber. »Beeil’ dich!« rief er über die Schulter, »es wird bald Tag!«
    Sie nahmen den Käfig auseinander, Dach und Gitter und Boden, und bauten ihn dann wieder um das Einhorn herum zusammen. Rukh rüttelte an der Tür, um sich zu vergewissern, dass sie fest verschlossen war. In diesem Augenblick flutete die Sonne über die graue Wipfelwirrnis herein, und das Einhorn schlug die Augen auf. Die beiden Männer machten sich aus dem Staub; aus sicherer Entfernung blickte der Zauberer zurück und sah, wie sich das Einhorn aufrichtete und die Eisenstangen anstarrte. Sein gesenkter Kopf schlenkerte hin und her wie der Kopf einer alten weißen Mähre.

 
    Die neun schwarzen Wagen der Mitternachtsmenagerie sahen am Tage kleiner aus und hatten ihr unheimliches Aussehen verloren; aus der Nähe wirkten sie recht morsch und brüchig. Die Vorhänge waren verschwunden, statt dessen waren sie jetzt mit groben schwarzen Fähnchen und ausgefransten schwarzen Bändern geschmückt, die bei jedem Luftzug flatterten. Die Wagen standen in seltsamer Formation auf einem Stoppelfeld: ein Fünfeck von Käfigen umschloss ein Dreieck, in dessen Mitte wiederum Mammy Fortunas Wagen hockte. Dieser Käfig war als einziger noch mit einem Vorhang verhängt; Mammy Fortuna war nirgends zu sehen.
    Rukh führte ein Häuflein Landvolk gemächlich von Käfig zu Käfig und gab zu jedem Tier einen gruseligen Kommentar. »Der Martichoras! Kopf eines Menschen, Körper eines Löwen, Schwanz eines Skorpions. Um Mitternacht gefangen! Frisst Werwölfe, um seinen Mundgeruch loszuwerden. Kreaturen der Nacht, ans Licht gebracht! Und hier der Drache! Speit hin und wieder Feuer – gewöhnlich nach Leuten, die ihn reizen, Bengel. Sein Inneres ist ein Inferno, seine Haut aber kälter als Eis. Der Drache leidet an Gicht und kann in siebzehn Sprachen kauderwelschen. Der Satyr! Damen bitte zurückbleiben! Ein Teufelsbraten! Die Umstände seiner Gefangennahme werden den Herren nachher für eine kleine Extragebühr enthüllt. Kreaturen der Nacht!« Der Käfig des Einhorns bildete einen Teil des Dreiecks; der hagere Zauberer stand neben ihm und beobachtete die Prozession, die um das Fünfeck herumpilgerte. »Ich dürfte eigentlich gar nicht hier sein«, sagte er zu dem Einhorn. »Die alte Hexe hat’s mir verboten.« Er lachte vergnügt. »Sie hat mich von Anfang an verhöhnt und verspottet, ich aber habe sie die ganze Zeit nervös gemacht!«
    Das Einhorn hörte ihn kaum. Es lief, lief in seinem Käfig ruhelos hin und her, schauderte und zitterte jedes Mal, wenn es in die Nähe der Eisenstangen kam. Kein Tier aus der Phantasiewelt des Menschen mag kaltes Eisen; zwar hätte das Einhorn dessen Gegenwart noch ertragen können, sein Geruch jedoch drohte seine Knochen in Sand und sein Blut in Wasser zu verwandeln. Die Gitter seines Käfigs mussten unter einem Zauberbann stehen, denn sie flüsterten unaufhörlich und böse miteinander, mit prasselnden, krallenden Stimmchen. Das schwere Schloss kicherte und greinte wie ein toller Affe.
    »Sag mir, was du siehst«, sagte der Zauberer, genau so, wie es die Hexe zu ihm gesagt hatte. »Sieh dir deine

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