Das letzte Einhorn
Das Einhorn lebte in einem Fliederwald, und es lebte ganz allein. Es war sehr alt, ohne etwas davon zu wissen, und es hatte nicht mehr die flüchtige Farbe von Meerschaum, sondern eher die von Schnee in einer mondhellen Nacht. Seine Augen aber waren frisch und klar, und noch immer bewegte es sich wie ein Schatten über dem Meer.
Es hatte keine Ähnlichkeit mit einem gehörnten Pferd, wie Einhörner gewöhnlich dargestellt werden; es war kleiner und hatte gespaltene Hufe und besaß jene ungezähmte, uralte Anmut, die sich bei Rehen nur in schüchternscheuer Nachahmung findet und bei Ziegen in tanzendem Possenspiel. Sein Hals war lang und schlank, wodurch sein Kopf kleiner aussah, als er in Wirklichkeit war, und die Mähne, die fast bis zur Mitte seines Rückens floss, war so weich wie Löwenzahnflaum und so fein wie Federwolken. Das Einhorn hatte spitze Ohren und dünne Beine und an den Fesseln Gefieder aus weißem Haar. Das lange Horn über seinen Augen leuchtete selbst in tiefster Mitternacht muschelfarben und milchig. Es hatte Drachen mit diesem Horn getötet und einen König geheilt, dessen vergiftete Wunde sich nicht schließen wollte, und für Bärenjunge reife Kastanien heruntergeschüttelt.
Einhörner sind unsterblich. Es ist ihre Art, allein an einem Ort zu leben, gewöhnlich in einem Wald, in dem es einen klaren Teich gibt, worin sie sich spiegeln können; sie sind nämlich ein wenig eitel, wohl wissend, dass sie auf der ganzen Welt die schönsten Geschöpfe sind, und zauberische obendrein. Sie haben nur selten Junge, und keine Stelle ist so wundervoll wie die, an der ein Einhorn geboren ward. Viel Zeit war verflossen, seitdem es ein anderes Einhorn gesehen hatte; und damals hatten die jungen Einhörner, die hin und wieder zu Besuch kamen, eine Sprache gesprochen, die ihm fremd war. Doch eigentlich konnte es sich Monate, Jahre und Jahrhunderte gar nicht vorstellen, nicht einmal Jahreszeiten. In seinem Wald herrschte immer Frühling, weil es dort lebte. Den ganzen Tag wandelte es unter den großen Buchen umher und hütete die Tiere, die in Nestern und Höhlen, in Büschen und Bäumen hausten. Geschlecht auf Geschlecht jagten und liebten sie, hatten Kinder und starben, Wölfe wie Hasen; und weil das Einhorn nichts von all dem tat, ward es nie müde, ihnen dabei zuzuschauen. Eines Tages ritten zwei Männer mit langen Bogen auf der Jagd nach Rehen durch seinen Wald. Das Einhorn folgte ihnen so behutsam, dass nicht einmal die Pferde es bemerkten. Der Anblick von Menschen erfüllte es mit einer uralten und ahnungsvollen Mischung aus Zorn und Zärtlichkeit. Wenn es irgendwie vermeidbar war, zeigte es sich den Menschen nicht, aber es bereitete ihm Freude, sie vorüberreiten zu sehen und sprechen zu hören. »Dieser Wald gefällt mir überhaupt nicht«, brummte der ältere der beiden Jäger. »In einem Einhornwald lernen alle Tiere mit der Zeit ein wenig Zauberei – vor allem, was das Verschwinden angeht. Beute machen wir hier keine.«
»Einhörner gibt es schon längst nicht mehr«, sagte der andere Mann, »wenn es sie überhaupt jemals gegeben hat. Das hier ist ein Wald wie jeder andere.«
»Und warum fällt hier weder Blatt noch Schnee? Ich sage dir, ein Einhorn gibt es noch auf der Welt – ich wünsch’ dem armen alten Ding viel Glück –, und so lange es in diesem Wald lebt, wird kein Jäger auch nur mit einer Maus als Beute am Sattel nach Hause reiten.
Reit nur zu, du wirst schon sehen. Ich kenne sie, diese Einhörner!«
»Aus Büchern«, erwiderte der andere. »Nur aus Büchern und Balladen und Märchen. Drei Könige haben geherrscht – und in dieser ganzen Zeit hat man weder in unserem noch in irgendeinem anderen Land auch nur den Schatten eines Einhorns gesehen. Du weißt über Einhörner nicht mehr als ich, denn ich habe die gleichen Bücher gelesen und die gleichen Geschichten gehört, und gesehen habe ich auch noch keines.«
Der erste Jäger schwieg eine Weile, und der andere pfiff griesgrämig vor sich hin. »Meine Urgroßmutter hat mal ein Einhorn gesehen«, sagte der vordere Reiter. »Als ich ein Kind war, hat sie mir oft davon erzählt.«
»Wirklich? Und hat sie es mit einem goldenen Zaum gefangen?«
»Nein. Sie hatte keinen zur Hand. Um ein Einhorn zu fangen, braucht man nur im Märchen einen goldenen Zaum. In Wirklichkeit muss man bloß ein reines Herz haben.«
»Das glaub’ ich auch«, lachte der jüngere Mann. »Und ist sie dann auf ihrem Einhorn geritten? Ohne Sattel, wie eine
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