Das letzte Experiment
Das San Martin gehörte einem englischen Ehepaar, den Lloyds, die mich mit solchem Zuvorkommen behandelten, dass man nicht glaubte, unsere Heimatländer hätten je Krieg gegeneinander geführt. Häufig findet man erst nach einem Krieg heraus, wie viel man mit dem Feind gemeinsam hat. Ich für meinen Teil stellte fest, dass die Engländer ganz genauso waren wie wir Deutschen, mit einem großen Vorteil: Sie mussten nicht Deutsch sprechen.
Das San Martin hatte diesen Alte-Welt-Charme: Glaskuppeln, komfortables Mobiliar und gute Küche – wenn man Pommes frites und Steaks mochte. Es lag gleich um die Ecke des größeren, teureren Hotel Richmond, wo es ein Café gab, das mir gefiel und in dem ich regelmäßig verkehrte.
Das Richmond erinnerte an einen Club. Es gab einen langen Raum mit Holzpaneelen und Säulen und Spiegeldecken und Drucken von englischen Jagdszenen an den Wänden sowie lederne Sessel. Ein kleines Orchester spielte Tango und Mozart und – ich hätte schwören können – eine Reihe von Mozart-Tangos. Das rauchschwangere Untergeschoss wurde bevölkert von Männern, die Billard oder Domino oder – vor allem – Schach spielten. Frauen waren nicht gern gesehen im Untergeschoss des Hotel Richmond. Argentinier nahmen ihre Frauen sehr ernst. Zu ernst, um sie dabeizuhaben, wenn sie Billard oder Schach spielten.
Oder vielleicht waren die argentinischen Frauen sehr gut im Billard und im Schach.
Daheim in Berlin hatte ich während der Hundstage der Weimarer Republik regelmäßig im Romanischen Café Schach gespielt. Ein- oder zweimal traf ich dort den großen Lasker, der ebenfalls dort Stammgast gewesen war und mir ein paar Dinge über Schach erklärte. Ich war dadurch nicht zu einem besseren Spieler geworden, doch gegen Lasker zu verlieren, war aufregender, als gegen jeden anderen Spieler zu gewinnen.
Im Souterrain des Richmond entdeckte mich Colonel Montalban. Ich beendete gerade ein Spiel gegen einen kleinen, rattengesichtigen Schotten namens Melville. Ich hätte möglicherweise ein Unentschieden erzwingen können, hätte ich Philidors Geduld besessen. Andererseits hatte Philidor nie unter den Augen der Geheimpolizei Schach spielen müssen. Auch wenn es fast so weit gekommen wäre. Zu seinem Glück weilte er gerade in England, als die Französische Revolution ausbrach, und er war klug genug, nicht wieder zurückzukehren. Es gibt wichtigere Dinge zu verlieren als ein Schachspiel. Beispielsweise den Kopf. Colonel Montalban mochte nicht den kalten Blick eines Robespierre haben, doch ich spürte ihn trotzdem in meinem Rücken. Und statt mich zu fragen, wie ich meinen Überzahl-Bauern zu meinem Vorteil nutzen konnte, dachte ich darüber nach, was der Colonel wohl von mir wollte. Hernach war es nur noch eine Frage der Zeit, bis ich verloren hatte. Es machte mir nichts aus, gegen den rattengesichtigen Schotten zu verlieren – ich hatte schon häufiger gegen ihn verloren. Es machte mir jedoch eine Menge aus, dass er meinte, mir einen Ratschlag erteilen zu müssen, als er mir seine schwitzige Hand reichte.
«Sie müssen immer den Turm hinter dem Bauern positionieren», sagte er in seinem lispelnden europäischen Spanisch, das ganz anders klingt als das lateinamerikanische. «Außer natürlich, wenn es ein Fehler wäre.»
Hätte Lasker mir diesen Rat gegeben, hätte ich ihm dafür gedankt.Doch er war nicht Lasker. Er war Melville, ein bärtiger Verkäufer aus Glasgow mit schlechtem Atem und einem ungesunden Interesse an jungen Mädchen.
Montalban folgte mir nach oben. «Sie spielen ganz passabel», bemerkte er.
«Ich komme ganz gut zurecht», erwiderte ich. «Das heißt, ich kam ganz gut zurecht, bis die Polizei aufgetaucht ist. Es stört mich in meiner Konzentration, verstehen Sie?»
«Tut mir leid.»
«Sie müssen sich nicht entschuldigen.»
«Wir sind nicht so in Argentinien», sagte er. «Es ist in Ordnung, die Regierung zu kritisieren.»
«Da habe ich aber auch schon ganz andere Dinge gehört. Und wenn Sie jetzt fragen von wem, beweisen Sie nur, dass ich recht hatte.»
Colonel Montalban zuckte die Schultern und zündete sich eine Zigarette an. «Es gibt Kritik, und es gibt Kritik», sagte er. «Meine Arbeit besteht darin, den subtilen Unterschied zu erkennen.»
«Man sollte meinen, dass das keine unglaublich schwere Aufgabe ist, wenn man seine
oyentes
hat?»
Oyentes
wurden hier Peróns Spione genannt – Leute, die in Bars, in Bussen oder am Telefon die Unterhaltungen anderer belauschten.
«So, Sie
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