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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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ich. «Ich erinnere mich sehr gut.»
    «Genau, Himmel und Hölle.» Der Colonel grinste. «Ich war ein guterzogener römisch-katholischer Knabe. Ich hatte noch nie vorher so viele nackte Frauen gesehen. Es gab eine spezielle Show,
Fünfundzwanzig Szenen aus dem Leben des Marquis de Sade
, und noch eine,
Die nackte Französin: Ihr Leben im Spiegel der Kunst
. Was für ein Ort. Was für eine Stadt. Ist wirklich nichts mehr davon übrig?»
    «Ganz Berlin ist eine Ruine. Kaum mehr als eine einzige riesige Baustelle. Sie würden nichts wiedererkennen.»
    «Das ist schade, sehr schade.»
    Er sperrte die Tür zu einem kleinen Zimmer gegenüber der gerichtsmedizinischen Leichenschau auf. Dort standen ein billiger Tisch, ein paar billige Stühle und ein paar billige Aschenbecher. Der Colonel zog einen Vorhang auf und öffnete ein schmutziges Fenster dahinter, um ein wenig frische Luft hereinzulassen. Auf der anderenStraßenseite erblickte ich eine Kirche und Menschen, die sie betraten und nichts wussten von Spurensuche und Mord und die Weihrauch rochen und nicht Formaldehyd und Zigaretten. Ich seufzte und sah auf meine Uhr. Ich bemühte mich kaum noch, meine Ungeduld zu verbergen. Ich hatte ihn nicht gebeten, mir den Leichnam eines toten Mädchens zu zeigen. Ich war gereizt und wütend, weil ich schon ahnte, was jetzt kommen würde.
    «Bitte entschuldigen Sie», sagte er. «Ich komme gleich zur Sache, Herr Gunther. Verstehen Sie, ich habe mich stets für die dunkle Seite der menschlichen Seele interessiert. Deshalb bin ich auch auf Sie aufmerksam geworden, Herr Gunther. In gewisser Weise haben Sie mich vor einem sehr langweiligen Leben bewahrt.»
    Der Colonel zog einen Stuhl für mich heran, und wir setzten uns.
    «Damals, 1932, hat es in Deutschland zwei spektakuläre Mordfälle gegeben.»
    «Es gab ein paar mehr als nur diese beiden», sagte ich mürrisch. «Aber diese beiden Fälle waren etwas anderes. Ich erinnere mich noch sehr genau an die schaurigen Einzelheiten. Es waren Lustmorde, nicht wahr? Zwei Mädchen, auf ähnliche Weise verstümmelt, genau wie die arme Grete Wohlauf hier. Eins in Berlin und eins in München. Und Sie, Herr Gunther, waren der für die Ermittlungen zuständige Beamte. Ihr Bild war in allen Zeitungen.»
    «Das stimmt. Allerdings sehe ich nicht, was das eine mit dem anderen zu tun haben soll.»
    «Der Mörder wurde nie gefasst, Herr Gunther. Deshalb unterhalten wir uns in diesem Moment.»
    Ich nickte. «Gut. Aber hören Sie, das liegt fast zwanzig Jahre zurück. Und fand mehrere tausend Kilometer von hier statt. Sie wollen sicherlich nicht andeuten, dass diese Morde in einem Zusammenhang stehen?»
    «Warum denn nicht?» Der Colonel zuckte die Schultern. «Ich muss jede Möglichkeit in Betracht ziehen. Im Nachhinein erscheintes mir, als wären es ganz speziell deutsche Verbrechen. Wer war dieser andere Kerl, der all die Knaben verstümmelt und ermordet hat? Fritz Haarmann, nicht wahr? Er biss ihnen die Kehlen durch und schnitt ihnen die Genitalien ab. Und Kürten. Peter Kürten. Der Vampir von Düsseldorf, den wollen wir auch nicht vergessen, nicht wahr?»
    «Haarmann und Kürten wurden hingerichtet, Colonel, wie Sie wohl selbst wissen. Sie können es also schwerlich gewesen sein, nicht wahr?»
    «Selbstverständlich nicht. Aber es gab andere Lustmorde, wie Sie sich bestimmt erinnern. Verstümmelungen und Kannibalismus.» Der Colonel beugte sich auf seinem Stuhl vor. «So weit, so gut. Ich will auf Folgendes hinaus, Herr Gunther. Viele Deutsche sind nach Argentinien gekommen, um hier in Buenos Aires zu leben. Vor dem Krieg und nach dem Krieg. Nicht alle von ihnen sind so zivilisierte Personen wie Sie. Selbstverständlich habe ich die Gerichtsverhandlungen gegen Ihre sogenannten Kriegsverbrecher aufmerksam verfolgt, und mir ist durchaus bewusst, dass einige Ihrer Landsleute grauenhafte Dinge getan haben. Unvorstellbare Dinge. Deswegen meine These, wenn man das schon so nennen kann. Die meisten, die in den letzten fünf Jahren nach Argentinien gekommen sind, waren nicht gerade Engel. Es sind ein paar Teufel darunter, ähnlich wie in jenem Berliner Club von damals, Himmel und Hölle. Das sehen Sie doch genauso, oder?»
    «Selbstverständlich. Sie haben gehört, was ich zum Präsidenten gesagt habe.»
    «Das ist richtig. Und genau deswegen dachte ich, dass Sie vielleicht der Mann sind, den ich brauche, Herr Gunther. Ein Engel, wenn Sie so wollen.»
    «So hat mich noch niemand genannt.»
    «Ich denke

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