Das letzte Experiment
wissen also bereits Bescheid über unser
oyentes
. Ich bin beeindruckt, wirklich beeindruckt», sagte der Colonel mit hochgezogenen Augenbrauen. «Nicht, dass ich beeindruckt sein sollte, schätze ich. Nicht angesichts eines so berühmten Berliner Detektivs, wie Sie es sind.»
«Ich bin lediglich ein Exilant, Colonel. Es zahlt sich aus, den Mund zu halten und die Ohren zu spitzen.»
«Und was haben diese gespitzten Ohren gehört?»
«Die Geschichte von den zwei Flussratten beispielsweise. Eine aus Argentinien, die andere aus Uruguay. Die Ratte aus Uruguay war ausgehungert, also schwamm sie über den Río de la Plata in derHoffnung, irgendetwas zu fressen zu finden. Auf halbem Weg kam ihr eine argentinische Ratte entgegen, die in die entgegengesetzte Richtung schwamm. Die uruguayische Ratte war überrascht und fragte, was eine gutgenährte Ratte in Uruguay zu suchen hätte, wo es doch in Argentinien offensichtlich so viel zu fressen gäbe. Und die argentinische Ratte antwortete …»
«… dass sie nur hin und wieder mal singen wollte.» Colonel Montalban lächelte müde. «Es ist ein alter Witz.»
Ich deutete auf einen leeren Tisch, doch der Colonel schüttelte den Kopf und nickte in Richtung Tür. Ich folgte ihm nach draußen auf die Straße, die zwischen elf Uhr morgens und vier Uhr nachmittags für den Autoverkehr gesperrt war, damit Fußgänger die offensiv dekorierten Schaufenster der Kaufhäuser wie Gath & Chaves bequem in Augenschein nehmen konnten – oder damit die Männer die attraktiv gekleideten Frauen beobachten konnten, die hier in Scharen herumliefen. Nach dem tristen München und dem trostlosen Wien kam Buenos Aires mir vor wie ein Pariser Laufsteg, vor dem Krieg, versteht sich.
Der Colonel hatte den Wagen abseits von der Florida geparkt, vor dem Claridge Hotel auf der Tucuman. Es fuhr ein hellgrünes Chevrolet Cabriolet mit Türen aus poliertem Holz, Weißwandreifen, roten Ledersitzen und – mitten auf der Motorhaube – einem gewaltigen Scheinwerfer für den Fall, dass er einen Parkplatzwächter verhören musste. Wenn man in diesem Wagen saß, fühlte man sich wie in einem Rennboot.
«Das also fährt die
Polenta
in Buenos Aires», bemerkte ich, indem ich mit der Hand über die Tür strich. Sie war so hoch und fühlte sich an wie der Tresen eines Luxus-Hotels. Ein hübsches rosafarbenes Haus für den Präsidenten, ein hellgrünes Luxus-Cabriolet für seinen Polizei- und Geheimdienstchef. Faschismus hatte noch nie so gut ausgesehen. Die Erschießungskommandos trugen wahrscheinlich Ballettröckchen.
Wir fuhren mit offenem Dach auf der Moreno nach Westen.Was für den Colonel wahrscheinlich wie ein kalter Wintertag war, war für mich angenehm frühlingshafte Luft. Die Temperaturen lagen um fünfzehn Grad Celsius, doch die meisten
porteños
liefen mit Hüten und Mänteln herum, als wäre es Januar in München.
«Wohin fahren wir?», fragte ich.
«Zum Polizeihauptquartier.»
«Mein Lieblingsort.»
«Entspannen Sie sich», lachte er. «Ich möchte Ihnen etwas zeigen, mehr nicht.»
«Hoffentlich die neuen Sommeruniformen. Falls ja, kann ich Ihnen vielleicht den Weg ersparen. Sie sollten rosa sein, die gleiche Farbe wie die Casa Rosada. Es könnte helfen, Polizisten in Argentinien beliebter zu machen. Schließlich fällt es schwer, einen Polizisten nicht zu mögen, wenn er in einer rosafarbenen Uniform daherkommt.»
«Reden Sie immer so viel? Was ist aus dem berühmten ‹Mund halten und Ohren auf!› geworden?»
«Nach zwölf Jahren unter den Nazis tut es gut, hin und wieder ein wenig zu plappern.»
Wir fuhren durch das Tor eines hübschen Gebäudes aus dem vergangenen Jahrhundert, das ganz und gar nicht nach einer Polizeistation aussah. Allmählich begann ich ein bisschen etwas über die argentinische Kultur zu verstehen. Argentinien war ein sehr katholisches Land. Selbst die Polizeistation sah aus, als befände sich im Innern eine Basilika, geweiht Sankt Michael, dem Schutzheiligen aller Polizisten.
Das Gebäude mochte nicht aussehen wie eine gewöhnliche Wache, doch drinnen roch es wie auf einer Wache. Alle Polizeiwachen auf der ganzen Welt riechen nach Kot und Angst.
Colonel Montalban führte mich durch ein Labyrinth marmorner Korridore. Polizeibeamte mit Aktenordnern unter dem Arm beeilten sich, uns den Weg freizumachen, während wir durch die Gänge hasteten.
«Ich fange an zu glauben, dass Sie jemand Wichtiges sind», sagte ich.
Wir blieben vor einer Tür stehen. Hier schien
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