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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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die Luft nochmal schlechter. Ich dachte an die Besuche des Aquariums im Berliner Zoo, früher, als ich noch ein Kind war. Oder an das Reptilienhaus. Jedenfalls irgendetwas Nasses, Schleimiges, Unangenehmes. Der Colonel nahm ein Päckchen Capstan Navy Cut hervor und bot mir eine an, bevor er uns beiden Feuer gab.
    «Die nehmen den Geruch», sagte er. «Hinter dieser Tür liegt die gerichtsmedizinische Leichenschau.»
    «Bringen Sie ihr Rendez-vous immer zuerst hierher?»
    «Nur Sie, mein Freund.»
    «Ich schätze, ich sollte Sie warnen. Ich bin von der empfindlichen Sorte. Ich mag Leichenschauhäuser nicht. Erst recht nicht, wenn Leichen darin liegen.»
    «Kommen Sie, Herr Gunther. Sie waren doch bei der Mordkommission, oder nicht?»
    «Das ist Jahre her, Colonel. Heute beschäftige ich mich lieber mit den Lebenden. Hat wohl mit dem Alter zu tun. Ich habe noch reichlich Gelegenheit, Zeit mit den Toten zu verbringen, wenn ich selbst tot bin.»
    Der Colonel stieß die Tür auf und wartete. Es sah so aus, als hätte ich keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Der Gestank wurde schlimmer. Nass und schleimig und definitiv tot. Wie ein toter Alligator beispielsweise. Ein Mann in weißem Kittel und hellgrünen Gummihandschuhen kam uns entgegen. Er sah ein bisschen indianisch aus, dunkelhäutig mit noch dunkleren Ringen unter den Augen, von denen eines milchig trübe war wie eine Perle. Er sah selbst aus wie eine Leiche.
    Er und der Colonel sahen sich schweigend an, nickten, und dann machten sich die grünen Handschuhe ans Werk. Es dauerte keine Minute, und ich blickte hinab auf den nackten Leib eines jungen Mädchens. Das heißt, ich nahm zumindest an, dass es sich umein Mädchen handelte. Was üblicherweise Aufschluss in dieser Hinsicht bot, fehlte nämlich vollständig. Und offenbar nicht nur die äußeren Organe, sondern auch die meisten inneren. Ich hatte schon mal tödliche Verletzungen gesehen, allerdings nur an der deutschen Westfront 1917.   Nichts unterhalb des Nabels der Toten schien am rechten Platz. Der Colonel ließ mir Zeit für einen gründlichen Blick, bevor er sagte: «Ich habe mich gefragt, ob die Tote Sie vielleicht an jemanden erinnert?»
    «Ich weiß nicht. Sie meinen, an eine Leiche?»
    «Ihr Name war Grete Wohlauf. Sie war Deutschargentinierin. Sie wurde vor zwei Wochen im Barrio Norte gefunden. Wir denken, dass sie erwürgt wurde. Ihre Gebärmutter und die übrigen Fortpflanzungsorgane wurden entfernt, mit großer Wahrscheinlichkeit von jemandem, der weiß, was er tut. Das war kein unüberlegter Überfall und kein Mord im Affekt. Wie Sie sehen, wurde sie mit nahezu klinischer Effizienz ausgeweidet.»
    Ich behielt die Zigarette im Mund, sodass der Gestank der geöffneten Leiche mir nicht in die Nase steigen konnte. Es roch eigentlich hauptsächlich nach Formaldehyd, doch wann immer ich diesen Geruch wahrnahm, kamen Erinnerungen an die vielen unangenehmen Dinge hoch, die ich in meiner Zeit bei der Berliner Kriminalpolizei erlebt und gesehen hatte. Vor allem an zwei Vorfälle erinnerte ich mich, doch ich sah keinen Grund, warum ich Colonel Montalban davon erzählen sollte.
    Was auch immer der Colonel von mir wollte, ich verspürte keine Lust mitzuspielen. Nach einer Weile wandte ich mich ab.
    «Und?», fragte ich.
    «Ich dachte mir   … Nun, ich dachte, vielleicht erinnert Sie der Anblick an etwas?»
    «Nein.»
    «Sie war erst fünfzehn Jahre alt.»
    «Das tut mir leid.»
    «Ja», sagte der Colonel. «Ich habe selbst eine Tochter. Ein wenigälter als die Tote. Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ihr so etwas zustoßen würde.» Er zuckte die Schultern. «Alles. Wirklich alles», sagte er.
    Ich sagte nichts. So würde er vielleicht schneller zum Punkt kommen.
    Er führte mich zur Tür zurück. «Ich habe Ihnen bereits erzählt, dass ich in Berlin Jura studiert habe», sagte er. «Fichte, von Savigny. Mein Vater wollte, dass ich Anwalt werde, doch meine Mutter, eine Deutsche, wollte, dass ich Philosoph werde. Und ich? Ich wollte reisen. Nach Europa. Und nach meinem Schulabschluss erhielt ich eine Gelegenheit, in Deutschland zu studieren. Alle waren glücklich. Ich am meisten von allen. Ich liebte Berlin.»
    Er öffnete die Tür, und wir traten in den Korridor hinaus.
    «Ich hatte eine Wohnung auf dem Ku’damm, in der Nähe der Gedächtniskirche und dieses Clubs mit dem Türsteher, der als Teufel verkleidet war. In dem die Kellnerinnen als Engel verkleidet waren.»
    «Das Himmel und Hölle», sagte

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