Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
fragte Hanna, »können Sie sich vorstellen, dass Sven von Vries Eriks Vater ist?«
»Nun«, sagte Emil bedächtig. »Das würde einiges erklären, nicht wahr?« Mit ruhigen Bewegungen stopfte er seine Pfeife, zündete sie dann schmauchend an und blickte den Rauchschwaden nach, die kräuselnd und einander umschlingend wie tanzende Nebelwesen zur Decke schwebten.
»Ich glaube nicht, dass Line Bescheid wusste. Wir haben oft gerätselt, wer wohl Eriks Vater sein könnte und was damals passiert ist. Aber Anna ist ja erst schwanger geworden, nachdem man Line aus Eichenhof geworfen hat, und von diesen zwei Monaten hat Anna kaum etwas erzählt.« Er sah aus dem Küchenfenster hinaus in den Garten, wo sich zwei Meisen in dem Vogelhäuschen balgten. »Ich habe Ihnen ja bereits erzählt, dass wir immer vermutet haben, dass Anna vergewaltigt worden ist, weil sie so gar nicht darüber reden wollte. Line hat erzählt, dass sie die Angewohnheit hatte, nachts draußen herumzuspazieren – und das mitten im Krieg.« Er zog wieder an seiner Pfeife, sodass der Tabak hell aufglühte. »Und da gab es noch so einen Hilfspfleger. Den Namen habe ich vergessen. Er war wohl minderbegabt, wie es heute so schön heißt. Er ist den jungen Frauen nachgeschlichen, ›richtig unheimlich‹ hat Line ihn immer gefunden. ›Wenn es der gewesen ist, kann ich verstehen, dass Anna nicht darüber sprechen will‹, hat sie immer gesagt. Auf Sven von Vries sind wir nicht gekommen.« Er lächelte, als er sah, wie die eine Meise mit einem großen Brocken Fett und Körnern im Schnabel davonflatterte. »Sven von Vries und Anna haben sich, soweit ich weiß, gut verstanden. Line hat mir in meiner einsamen Kammer viel erzählt von Eichenhof und ihren Kollegen. Wie sie zu viert einmal tanzen waren, diese beiden jungen Ärzte und die Mädchen. Ich weiß noch, wie eifersüchtig ich war auf diesen Grafenburschen, diesen Konstantin.« Er lachte leise. »Warum hätte Anna also nicht darüber sprechen sollen, dass das Kind von diesem Arzt war? Prüde ist sie nie gewesen.« Dann wurde sein Blick hart. »Aber nachdem wir jetzt wissen, dass Sven von Vries kein netter Kerl war, sondern eine Art Doktor Mengele, sieht die Sache natürlich anders aus.« Er ließ die Pfeife sinken. »Der arme Erik«, sagte er.
Nebenan hörten sie Line trällern. Es waren zwei Zeilen aus dem Refrain von »Lili Marleen«: »Wenn sich die späten Nebel dreh’n, werd ich bei der Laterne steh’n, wie einst, Lili Marleen.« Sie sang es immer wieder, wie eine Schallplatte, die einen Sprung hatte.
Emil erhob sich und ging hinüber zu ihr. »Willst du dich nicht zu uns setzen, Liebste?«
Neugierig spähte Line um die Ecke: »Wie reizend, wir haben Besuch!«, rief sie erfreut. Dann ging sie zu Hanna hinüber. »Sind Sie nicht die Kleine von Maziniaks?«
»Nein«, sagte Hanna bedauernd. »Ich heiße Hanna.«
Line ergriff ihre Hand. Sie drückte sie fest.
Mittwoch, 8. September 1943
Anna presste ihre Stirn an die kühlen Kacheln der Gemeinschaftstoilette. Erleichtert merkte sie, wie die Übelkeit abebbte. Sie spülte sich den Mund mit kaltem Wasser und stützte sich dann mit beiden Armen am Waschbecken ab, das alt und voller Sprünge war. Aus dem Spiegel schaute sie eine junge Frau mit tiefen Ringen unter den Augen an. Langsam wischte sie mit dem Handrücken über den Mund. Sie blickte hinunter zu ihrem flachen Bauch. Schwanger. Die spannenden Brüste, die verdammte Übelkeit. Alle Anzeichen sprachen dafür. Als ihre Periode vor vier Wochen das erste Mal ausgeblieben war, hatte sie sich eingeredet, der Schock über Sven von Vries’ Tod, vor allem aber über seine Machenschaften und Majas schreckliches Ende hätte ihren Zyklus durcheinandergewirbelt.
Doch dem war offenbar nicht so. In ein paar Wochen würde sich ihr Zustand nicht mehr verheimlichen lassen. Eine Abtreibung kam nicht infrage. Zum einen kannte sie niemanden, der ihr helfen könnte. Außerdem: Auch wer eine erfahrene Engelmacherin fand, konnte an den Blutungen sterben. Sie dachte nicht daran, sich einem solchen Risiko auszusetzen. Und dann war da natürlich auch noch das Kind. Das konnte schließlich nichts dafür, dass es unwillkommen war. Sie strich sich das schweißnasse Haar aus der Stirn. Außerdem gab es seit Beginn des Krieges haufenweise ledige Mütter. Frauen, deren Verlobte im Krieg gefallen waren. Frauen, die unter dem Eindruck der täglichen Gefahr, in dem Bewusstsein, dass sie morgen tot sein könnten, ganz im Hier
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