Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
bringen. Er war nur einer aus dem endlosen Strom billiger Arbeitskräfte, die das Pflegesystem am Leben erhielten. Und so erfuhr Hadice auch nie etwas davon, dass Ilse Bergman angerufen hatte.
Erst ganz zum Schluss fiel Magda, einer jungen Tschechin, ein, dass Ilse ein Päckchen erhalten hatte – ein bis dato nie da gewesenes Ereignis. Darin waren allerfeinste Pralinen gewesen. »Frau Steiner hat die sofort alle aufgegessen«, sagte Magda. »Wahrscheinlich hatte sie keine Lust, jemandem etwas abzugeben.«
»Womöglich hat das dem Mädchen das Leben gerettet«, sagte Hadice zu Theo und den anderen.
»Du meinst, die Pralinen waren vergiftet?«
Hadice zuckte die Schultern. »Immerhin war sie am nächsten Morgen tot. ›Herzversagen‹ stand auf dem Totenschein.«
Dass der Tod der bösartigen alten Frau wahrscheinlich auf Bergmans Konto ging, war jedoch unmöglich nachzuweisen. Schachtel und Papier waren längst auf der Mülldeponie unter Tonnen von Abfällen begraben. Und Ilses Körper war verbrannt worden, wie fast jeder, der in einem Pflegeheim starb. Der Staat zahlt immer nur die kostengünstigste Bestattungsmethode, hatte die Leiterin erklärt.
»Immerhin hat die Sache ein Gutes«, munterte Hadice die niedergeschlagene Runde auf. Zwei plötzlich verstorbene alte Frauen, die in ihrer Jugend gemeinsam in Eichenhof waren – das hat die Kollegen vom Dezernat für Kapitalverbrechen hellhörig gemacht. »Die nehmen Bergman noch einmal ganz genau unter die Lupe. Wer weiß, vielleicht finden sie was.«
Doch die Ergebnisse waren gleich null: Die Durchsuchung von Bergmans Anwesen ergab nichts, ebenso wenig die Analysen der Proben vom Deck seines Boots. Sie wussten nicht, dass die Plane, die Bergman und Fitzpatrick unter Annas Körper gelegt und anschließend entsorgt hatten, verhindert hatte, dass Haare oder Fasern von Anna an Bord zu finden waren. Niemand hatte das Schiff in der fraglichen Nacht auslaufen sehen. Niemand hatte nächtliche Gestalten am Leuchtturm gesehen. »Es ist zum Die-Wände-Hochgehen«, sagte Theo zu Hanna, die sich zu seiner Freude bereit erklärt hatte, endlich mit ihm essen zu gehen.
Den Durchbruch sollte es erst eine Woche später geben. Er kam aus gänzlich unerwarteter Richtung.
Sonnabend, 31. Januar 2009
Jutta schenkte zwei Zentimeter Gin in ihr Lieblingsglas. Sie warf mit geübtem Schwung eine Scheibe Zitrone hinein und goss das Ganze mit Tonic auf. Sie nahm einen kräftigen Schluck und trat dann vor den großen, goldgerahmten Spiegel, den sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. Er hatte den unbezahlbaren Vorteil, dass man darin um fünf Pfund schlanker wirkte als in Wirklichkeit. Jutta betrachtete sich wohlgefällig. Für ihre 64 Jahre hatte sie sich bemerkenswert gut gehalten. Eigens für den heutigen Abend hatte sie ihr goldblondes Haar von der Friseurin ihres Vertrauens zu einem imposanten Turm aufstecken lassen. Sie trug ein raffiniert geschnittenes Seidenkleid mit tiefem Dekolleté, das ihren noch immer erfreulich jugendlichen Busen schön zur Geltung brachte. Der champagnerfarbene Stoff war mit violetten Blütenranken bedruckt. Dazu trug sie große, farblich passende Amethystohrringe und auberginefarbene Wildlederpumps. Nicht, dass das farblich aufeinander abgestimmte Ensemble irgendeinem Mann besonders aufgefallen wäre. Aber perfekt gekleidet und frisiert fühlte Jutta sich selbstbewusst und begehrenswert. Und das war es, was zählte. Heute hatte sie ihr erstes Rendezvous mit Rudolf. Sie hatte ihn bei einer Buchlesung kennengelernt. Er war ein weiteres Exemplar in einer langen Reihe von Galanen, mit denen Jutta sich ihr Leben als fröhliche Witwe versüßt hatte. Ihr war nie in den Sinn gekommen, sich nach dem frühen Tod ihres Mannes noch einmal neu zu verheiraten. Ungebunden hatte ihr Leben unbestreitbar an Qualität gewonnen. Und Männer waren auf jeden Fall attraktiver, wenn man nicht mit ihren dreckigen Socken und anderem unangenehmen Beiwerk konfrontiert wurde. Jutta lächelte ihrem Spiegelbild zu. Perfekt. Das einzige Problem war die Handtasche. Die Miniaturkopie einer Kelly-Bag aus violettem Krokolederimitat stand griffbereit auf dem Wohnzimmertisch: das perfekte Accessoire. Aber es war die Tasche, die Anna sich vor ein paar Wochen von ihr geliehen hatte. Die Tasche, die Anna bei ihrem Tod bei sich gehabt hatte. Dieser wirklich charmante junge Entrümpelungsunternehmer hatte ihr die Tasche freundlicherweise vorbeigebracht. Ihm war aufgefallen, dass das Accessoire
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