Zwischen uns das Meer (German Edition)
P ROLOG
1982
In ihren Augen waren manche Familien wie gepflegte Parks mit hübschen Blumenbeeten und großen, ausladenden Bäumen, die Zuflucht vor der Sommersonne boten. Andere hingegen – das wusste sie aus eigener Erfahrung – waren blutige, mit Schrapnellsplittern und verstümmelten Gliedmaßen übersäte Schlachtfelder.
Jolene Larsen war zwar erst siebzehn, aber Krieg hatte sie schon kennengelernt. Sie war in einer unglücklichen Familie aufgewachsen.
Am Valentinstag war es am schlimmsten. Zwar war der häusliche Frieden immer gefährdet, doch wenn die Werbung im Fernsehen nur Blumen, Pralinen und rote Herzen zeigte, wurde die Liebe in den groben Händen ihrer Eltern zur Waffe. Natürlich fing alles mit Alkohol an. Immer. Gläser mit Bourbon, die immer wieder neu gefüllt wurden. Das war der Auftakt. Dann kamen Schreie und Weinen, gefolgt vom Schmeißen mit Gegenständen. Jahrelang hatte Jolene ihre Mutter gefragt, warum sie ihn – ihren Vater – nicht einfach verließ und sich nachts heimlich davonschlich. Die Antwort ihrer Mutter hatte stets gelautet: Ich kann nicht. Ich liebe ihn. Manchmal weinte sie bei diesen ominösen Worten, manchmal sagte sie sie mit deutlicher Verbitterung, doch im Grunde war es ganz gleich, wie sie dabei klang, denn wichtig war nur die tragische Wahrheit ihrer unerwiderten Liebe.
Jetzt schrie unten jemand.
Wahrscheinlich Mom.
Dann krachte etwas – irgendetwas Großes wurde an die Wand geworfen. Eine Tür knallte. Das war wohl Dad.
Er hatte wütend (wie immer) das Haus verlassen und die Tür hinter sich zugeknallt. Morgen oder übermorgen, wenn er kein Geld mehr hätte, würde er zurückkehren. Er würde nüchtern und mit schlechtem Gewissen in die Küche geschlichen kommen und nach Alkohol und Zigaretten stinken. Mom würde schluchzend zu ihm stürzen und ihn in die Arme nehmen. Oh, Ralph … ich hatte solche Angst … es tut mir leid, bitte gib mir noch eine Chance, du weißt doch, wie sehr ich dich liebe …
Jolene ging geduckt durch ihr Zimmer mit der steilen Dachschräge, um sich nicht den Kopf an den massiven Holzbalken zu stoßen. Es gab nur eine Lichtquelle hier, eine Glühbirne, die schief und lose an einem Dachsparren hing, wie der letzte Zahn im Mund eines alten Mannes.
Sie öffnete die Tür und spitzte die Ohren.
War es vorbei?
Dann schlich sie die schmale Treppe hinunter und hörte, wie die Stufen unter ihrem Gewicht knarrten. Sie entdeckte ihre Mutter im Wohnzimmer. Dort saß sie zusammengesunken auf der Couch, und eine Zigarette hing ihr qualmend im Mundwinkel. Die Asche fiel ungehindert auf ihren Schoß. Auf dem Boden verstreut sah man die Spuren des Streits: Flaschen, Aschenbecher und Glasscherben.
Noch ein paar Jahre zuvor hätte Jolene versucht, ihre Mutter zu trösten. Doch zu viele Abende wie dieser hatten sie hart gemacht. Jetzt empfand sie gegenüber dem Drama ihrer Eltern nur noch Überdruss und Ungeduld. Es änderte sich nie etwas, und Jolene blieb es stets überlassen, das Chaos zu beseitigen. Sie ging vorsichtig durch die Scherben zu ihrer Mutter und kniete sich vor sie hin.
»Gib mir das«, sagte sie resigniert, nahm ihr die brennende Zigarette ab und drückte sie im Aschenbecher auf dem Boden aus.
Die Mutter sah sie traurig an. Ihre Wangen waren feucht vom Weinen. »Wie soll ich nur ohne ihn leben?«
Wie aufs Stichwort sprang die Hintertür auf. Herein drang kalte Nachtluft, die nach Regen und Kiefern roch.
»Er ist wieder da!« Sie stieß Jolene beiseite und rannte in die Küche.
Ich liebe dich, Schatz, es tut mir leid , hörte Jolene sie sagen.
Jolene stand langsam auf und drehte sich um. Ihre Eltern hielten sich so fest umschlungen wie die Liebespaare im Film, die sich nach einem Krieg wiedergefunden haben. Ihre Mutter hing geradezu verzweifelt an ihrem Mann und umklammerte den Stoff seines karierten Hemds.
Ihr Vater schwankte betrunken hin und her, als hielte nur sie ihn aufrecht, doch das war unmöglich, denn er war ein Riese, breit und massig, mit prankenartigen Händen; ihre Mutter hingegen war so zart und bleich wie eine Eierschale. Jolene hatte ihre Größe von ihm geerbt.
»Du darfst mich nicht verlassen«, schluchzte die Mutter undeutlich.
Ihr Vater wandte den Blick ab. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Jolene Schmerz in seinen Augen – Schmerz, und noch schlimmer: Scham, Reue und Verlustgefühle.
»Ich brauche was zu trinken«, sagte er mit einer Stimme, die von ungezählten filterlosen Zigaretten rau geworden
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