Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
und Jetzt lebten und für eine Nacht oder auch nur für den flüchtigen Moment des Orgasmus die Angst vergessen wollten.
Anna richtete sich auf. Wer weiß, vielleicht würde sich das Problem von ganz allein lösen. Vielleicht würde sie den Embryo verlieren. Sie wusste, die Chancen standen schlecht. Sie war jung und kerngesund. Der Gedanke an die Millionen Frauen, die seit Jahrtausenden dieselbe vergebliche Hoffnung gehegt hatten, erfüllte sie mit Bitterkeit. Nicht einmal, wer der Vater war, wusste sie mit Sicherheit. Mit Sven hatte sie nur einmal ungeschützt geschlafen, an jenem Abend, als nach Lines Hinauswurf auch noch Maja verlegt worden war. Sven war der letzte Vertraute gewesen. Voller Verzweiflung hatte sie Trost bei ihm gesucht. Danach hatten sie immer Kondome benutzt. Was hieß immer – mehr als dreimal war es nicht passiert. Sie schauderte vor Selbstekel, als sie daran dachte, dass sie sich mit diesem verdammten Menschenschinder eingelassen hatte. Aber da gab es natürlich auch noch Fritz mit seinen lüsternen Blicken und seinem schmutzigen Grinsen. Hatte er sie geschwängert, als sie ohnmächtig war? Wie Kleists Marquise von O. Sie wusste kaum, welche Option die schlimmere war. Unten rief der Gong zum Frühstück. Sie bezweifelte, auch nur einen Bissen herunterwürgen zu können. Als sie die Schürze ihres Schwesternkittels glatt strich, knisterte es in ihrer Tasche. Sie zog einen Brief von Line heraus, der vor ein paar Tagen eingetroffen war. Noch am selben Abend schrieb Anna zurück. Sie schrieb, dass sie schwanger war. Sie schrieb, dass sie nicht wusste, wohin, denn ihre Eltern würden den dicken Bauch weder akzeptieren noch verzeihen. Die Antwort kam postwendend. »Komm zu uns, liebste Anna«, stand da in Lines mädchenhaft runder Schrift. »Mama und ich, wir freuen uns.«
Montag, 9. März 2009
Die roten Backsteinmauern ragten fast vier Meter vor ihm in die Höhe. Sie waren mit einer steinernen Zickzackbordüre verziert und erinnerten mit ihren stählernen Wachtürmen an eine mittelalterliche Burg. Ebenso das Eingangsportal, das aus grauen, roh behauenen Massivsteinen gefertigt war und in dem drei hohe Eisentore den unmittelbaren Zutritt verwehrten. Die Untersuchungshaftanstalt an der Glacischaussee nahe der Hamburger Messe war viel größer, als Erik Florin sich vorgestellt hatte. Der Gebäudekomplex umfasste mehrere Innenhöfe und bot Raum für 680 männliche und 63 weibliche Untersuchungshäftlinge, wie er gelesen hatte. Dass der Platzbedarf für männliche Gefangenen zehnmal höher eingeschätzt wurde als für Frauen, warf ein unrühmliches Licht auf die männliche Natur, fand Erik. Durch den Gebäudetrakt wurden jährlich zwölftausend Inhaftierte geschleust, Menschen, die in Abschiebehaft saßen, Menschen, die wegen unbezahlter Ordnungswidrigkeiten zwischenzeitlich festgesetzt wurden, und Verdächtige ohne festen Wohnsitz, die hier die Zeit bis zu ihrem Gerichtsverfahren untergebracht waren oder bei denen Flucht- oder Verdunklungsgefahr bestand. Zu der letzen Gruppe gehörte Jonathan Bergman. Bergman alias Sven von Vries, dafür sprach vieles, vor allem der Gentest, den das Dezernat für Kapitalverbrechen, das für den Fall zuständig war, angeordnet hatte. Für Erik war die Erkenntnis, dass sein Vater noch lebte, zunächst der größte Schock gewesen. Das Einzige, was Anna ihm zum Thema Vaterschaft mitgeteilt hatte, war stets gewesen, der Kerl sei gottlob tot. Nun zeigte sich, dass er nicht nur am Leben, sondern offenbar eine Art zweiter Dr. Mengele gewesen war. Und dass er seine Mutter ermordet hatte.
Erik war stinksauer auf Anna. Die Heimlichtuerei und vor allem ihre Distanz zu ihm hatten ihn sein Leben lang belastet. Wenn sie nur mit ihm gesprochen hätte! Dann hätte er verstehen können, warum sie es vorgezogen hatte, sich um Kinder in Afrika zu kümmern statt um ihn. Dann hätte er sich auch nicht dauernd selbst die Schuld für ihr abweisendes Verhalten gegeben. Zu dick, zu blöd, zu langweilig hatte er sich immer gefunden, ihrer Liebe nicht würdig. Und auch Lines und Emils Zuneigung hatte an der Überzeugung, nicht gut genug zu sein, nichts ändern können.
Und jetzt hatte sie auch noch die Idiotie besessen, ihrem Mörder einfach in die Arme zu spazieren. Wie ein Lamm zur Schlachtbank, dachte er. Und das alles, ohne ihm, Erik, die Möglichkeit zu geben, sich noch einmal mit ihr auszusprechen. Der Einzige, der ihm etwas über die Umstände seiner Zeugung berichten konnte, war
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