Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
Lebensbereiche wirft überall dort Fragen auf, wo sie sich auf Lebensbereiche bezieht, deren Eigenlogik / Eigen-»Sinn« mit dem Gebot der Effizienz und der Messbarkeit von Kosten und Nutzen nicht so leicht in Einklang zu bringen ist. Muss ein Krankenhaus geführt werden wie eine Stahlschmiede? Muss in meinem Alltag jede Minute so verplant und ausgefüllt sein wie im Alltag eines Managers? Muss ich zur Ich-AG werden, um den Anforderungen unserer Zeit zu genügen?
Es ist unser Anspruch auf Einzigartigkeit, der das individuelle Leben so kostbar macht. Das einzigartige Individuum kann in nichts und niemandem fortleben, mit seinem Ende ist es unwiederbringlich verloren. Wenn das Leben die einzige Gelegenheit ist, dann steigert sich die Verlustangst ins Unerträgliche. Zudem ist die Aufgabe der Selbsterschaffung und Selbstverbesserung, die sich das Individuum zur Pflicht macht, prinzipiell unvollendet. Wir haben nur noch das Diesseits. Und fürchten uns davor, seine Möglichkeiten nicht nutzen zu können. Es ist – immer! – viel zu früh zum Sterben. Für jeden. Wir kämpfen gegen den Tod als Feind wie gegen das Trauern mit allen Mitteln an. Ein aussichtsloser Kampf.
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Die Ängste des modernen Menschen sind »flexibilisiert«. Sie sind diffus und nicht mehr auf eine konkrete Hölle oder einen konkreten Himmel bezogen.
Auch der letzte Lebensabschnitt gerät in Bewegung. Man kann sein Leben im Krankenhaus, im Pflegeheim, im Hospiz oder bei ambulanter Betreuung zu Hause beschließen. So fragmentiert, wie das Leben der Menschen heute ist, ist auch das Ende geworden: Das sieht man unter anderem daran, dass die Versorgung selbst aufgeteilt ist, wobei die verschiedenen Dienstleistungen oft nicht einmal aufeinander abgestimmt sind. Der Mensch bleibt selbst am Ende nicht davon verschont, noch einmal zwischen verschiedenen Angeboten und Dienstleistungen wählen zu müssen.
In den letzten Jahrzehnten ist das Leben komplexer und unübersichtlicher geworden denn je zuvor. Ein Zuviel an Belastungen und Anforderungen trifft auf ein Zuwenig an Kompetenzen und Ressourcen. Aus diesem Missverhältnis ergibt sich das beängstigende Gefühl der Überforderung. In der Debatte um Tod und Sterben tritt oft die Grundüberzeugung hervor: Ich will mein Leben eigenverantwortlich gestalten, nicht von Geräten abhängig sein, keine Behandlungen bekommen, gegen die ich mich nicht wehren kann. Viele Menschen lehnen lebensverlängernde Maßnahmen ab und legen dies in einer Patientenverfügung fest.
Die Industriezivilisation ist die erste, die über die technischen Möglichkeiten verfügt, Menschen maschinell am Leben zu halten. Ein Triumph über Endlichkeit und Hinfälligkeit, der aber oft als beängstigend empfunden wird. Wie der Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht wieder loswird, demonstriert die Medizin, was sie kann, ob die so am Leben Erhaltenen das wollen oder nicht. Gerade jenem modernen Menschen, der seine Unabhängigkeit feiert, wird nun von Instrumenten vorgeführt, was radikale Abhängigkeit ist. Die Individualisierung und ihre Kehrseite, die Vereinzelung, die mit dem Fortschreiten der Moderne einhergeht, legt sich auch über den letzten Lebensabschnitt des Menschen. »Unser Leben ist zweifellos in Auflösung begriffen und somit auch die Familie«, schreibt Dostojewski schon 1877 im Tagebuch eines Schriftstellers . Die Auflösung der sozialen Milieus, in denen die Menschen früher einmal ihr Leben abschlossen, erzeugt jene Ausgrenzung des Todes in Institutionen. Es gibt kein Zurück in die alten familiären und nachbarschaftlichen Verhältnisse. Die Suche gilt neuen individuellen wie sozialen Formen des Umgangs mit Sterben und Tod, mit Trauer und Trauernden.
Das Totengedenken ist ein Problem moderner Kulturen überhaupt. In der Geschichte der Säkularisierung sind die religiösen Vorstellungen vom Tod weitgehend aufgelöst worden. Der Philosoph Pascal Bruckner formuliert es in seinem Essay Verdammt zum Glück knapp: »Modern sein heißt unfähig sein, sich mit dem Schicksal abzufinden, das für uns vorgesehen ist.«
Dank der rationalistischen »Entzauberung der Welt« ist weitgehend verloren, was einst Sterben und Trauer geprägt hat: ein religiöser Deutungshorizont, der den Menschen den Tod der anderen ebenso wie die eigene Sterblichkeit als ein göttliches Geschick zu deuten erlaubt. Nach dem Schwinden religiöser Gewissheiten und dem »Verlust der Ewigkeit«, das heißt des Glaubens an ein jenseitiges Leben oder
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