Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
selbst.
Anders als die stabilen sozialen Gefüge von einst ist die Welt des modernen Menschen durch eine wachsende Beschleunigung, durch ständige technische, soziale, ökonomische und private Veränderungen geprägt. Alles wird schneller, das Internet, das Auto, das Eingehen und Auflösen von Beziehungen, die Arbeit im Büro. Familien zerfallen, Arbeitsplätze gehen verloren, und an die Stelle von Prinzipien der Lebensführung ist eine Art Ad-hoc-Moral getreten. Die »flüchtige Moderne« setzt den modernen Menschen unter Druck: Heimat? Man hat an vielen Orten gewohnt. Familie? In alle Winde zerstreut oder nur noch im engsten Kreis gelebt. Die Arbeit? Ein Patchwork von Projekten.
Wir konsumieren uns zu Tode
Wir sind, im wahrsten Sinne des Wortes, unser »Glückes Schmied« geworden. Das Individuum ist in den Mittelpunkt gerückt, und dieses Individuum hat all die Aufgaben zu übernehmen, die Entscheidungen zu treffen und die eigenen (Lebens-)Bahnen zu zeichnen, die in früheren Generationen von der Gemeinschaft und dem Kulturkreis vorgegeben waren. Wir wollen möglichst viel erleben und tun viel dafür, um gesünder, glücklicher, leistungsfähiger zu werden und das Leben im Griff zu haben. Wir haben den Halt in Glaubenssystemen, in Orten, in Bindungen aufgegeben – zugunsten der individuellen Freiheit, nach unserer »eigenen Fasson« selig zu werden. Niemand zwingt uns, irgendwohin zu gehören. Wir wählen unsere Gemeinschaften, und wir wollen darin bestimmen und mitbestimmen. Der Einzelne hat an Macht gewonnen, er definiert sich als Ich-AG und entscheidet sich immer wieder neu für die Bindungen, die er eingehen will.
Diese Verantwortung, für unser eigenes Heil zu sorgen, fordert viel, und manchmal überfordert sie den Einzelnen. Zumal Experten für jeden Lebensbereich Maßstäbe aufstellen, denen kaum je Genüge getan werden kann, und eine schier grenzenlose Fülle von Entscheidungsoptionen jede Wahl zur Qual werden lässt. Wir leben in einer pluralisierten Gesellschaft, in der sich die Welten und die Werte, die Möglichkeiten und Entscheidungsoptionen, die parallel existieren, vervielfältigt haben – und wir sind mit Entscheidungen konfrontiert, die wir mit immer unvollständigeren Informationen treffen müssen. Mit der Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten, mit der Pluralisierung von Werten und Weltbildern wächst zugleich die Notwendigkeit konkreter und individueller Entscheidungen am Lebensende und im Umgang mit Tod und Trauer. Das Verblassen der Sterbe- und Trauerkultur hinterlässt eine Lücke, die Institutionen nur ungenügend füllen.
Wir leben in einer ökonomisierten, medialisierten Welt, die unsere Wahrnehmungsmuster prägt. Wir sind heute fast grenzenlos mobil, füllen unsere Terminkalender und halten uns auf dem Laufenden. Die äußere wie die innere Mobilität sind zu Imperativen geworden. Kulturen, die noch in alten Traditionen verhaftet sind oder dem Individuum einen weniger prominenten Platz einräumen, sehen wir als »rückständig« und unmodern an.
Als moderne Menschen definieren wir uns über unsere Leistungen. Solange es geht. So verwundert es nicht, dass die Krankheit der Zeit eine Krankheit der Grenzenlosigkeit ist: Burn-out, das Ausgebranntsein. Wir können weder mit den Leistungs- noch mit anderen Grenzen umgehen. An die Stelle der Traditionen, deren wir uns entledigt haben, sind Experten getreten, die wir als wissenschaftliche Autorität zu akzeptieren gelernt haben, sowie der Auftrag zur Selbstoptimierung. Unsere Kultur erzieht uns zum »mehr« Wollen, anstatt dazu, unsere eigenen Grenzen zu finden und das zu akzeptieren, was wir haben. Der Tod ist für uns ein endgültiges Ende.
Der heutige Umgang mit Tod und Trauer in der Gesellschaft ist vom System gewollt. Ein konsumorientiertes System will keine Grenzen, verspricht eine Scheinwelt ohne Grenzen. Aber es kann die Grenze »Tod« nicht abschaffen, also tut es alles, um den Tod in der Normalität des Alltags und des Lebens nicht mehr erfahrbar zu machen. Doch Grenzenlosigkeit führt zur Orientierungslosigkeit. Und Orientierungslosigkeit macht Angst. Und der angstbesetzte Mensch ist manipulierbar und damit empfänglich für Verführungen aller Art.
Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem Menschen, wie er ist, und dem Menschen, wie er sein möchte. Wir leben mit einem Bild des Sterbens, das aus dem Fernsehkrimi kommt, so wie unser Bild von Schönheit in Hollywood produziert wird.
Diese Ökonomisierung immer weiterer
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