Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
uns nicht hilft, Trauer zu akzeptieren, die uns die Toten stiehlt. Das heißt, dass wir mit den Gegebenheiten, mit den Lebensstilen neue Formen finden müssen, die diesen entsprechen. Dies ist eine Aufgabe, die sich dem Einzelnen stellt – und die sich auch der Gesellschaft stellt. So, wie es jetzt aussieht, werden wir nicht mehr mit dem Tod erzogen, sondern vom Tode entzogen. Wir brauchen die Wiederbelebung einer »Death-Education«!
Wie schwierig, wie mühsam und langwierig das ist, wie viel Mut das erfordert, das erleben auch Ärzte, die einen anderen Umgang mit dem Sterben fordern. Wir könnten die Begriffe Leben und Sterben definieren als Auseinandersetzung mit und letzten Endes Annahme der eigenen Vergänglichkeit. Sterben und Trauern sind keine passiven, sondern aktive Prozesse. Sie sind Handlungen. Menschen werden nicht gestorben, sie sterben. In unserer Sprache gibt es viele Umschreibungen für das Sterben wie: »Sie ist gegangen«, »Er hat seine letzte Reise angetreten«, »Sie hat uns verlassen« Darin wird der aktive Aspekt betont, Sterben wird als Reise beschrieben, als Weg, der von den Sterbenden gegangen wird.
Uns sind die Kriterien dafür abhandengekommen, was »sterben« bedeuten kann, wie wir sterben wollen. Die Kriterien für diese Wahl setzen Werte voraus. Sie sind nicht technischer Natur. Die Fragen, vor die uns Tod, Trauer und Sterblichkeit stellen, sind nur vom Einzelnen zu beantworten und von der Gesellschaft, in der er lebt. Wir können auf diese Antworten nicht verzichten.
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Memento mori: ein Blick zurück
Die Bedeutung von Totenritualen in der Geschichte
Nein, früher war nicht alles besser, auch das Sterben nicht. Doch es war vertraut und eingebettet in den Alltag und die Alltagserfahrung. Früher haben die meisten schon in ihrer Kindheit erlebt, dass der Großvater oder die Großmutter starb, eine Tante, ein Nachbar, Menschen, die Teil des Alltags waren. »So ist das eben, so ist der Lauf der Welt, das gehört dazu« – das sind die Sätze, die zu diesen Toden passen, sie sind selbstverständlich, aber vor allem sind sie nicht bedrohlich. Dieses »So ist der Lauf der Welt« war ein Aspekt des Alltags, in dem Erfahrungen mit Sterben und Trauer dazugehörten.
Fast zwei Jahrtausende lang – »von Homer bis Tolstoi« – blieb im Abendland die Grundeinstellung der Menschen zum Tod nahezu unverändert. Der Tod war ein vertrauter Begleiter, ein Bestandteil des Lebens, er wurde akzeptiert, und die letzte Lebensphase wurde häufig als Erfüllung empfunden. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich ein entscheidender Wandel vollzogen. Der Tod ist zu etwas Furchteinflößendem und Unfassbarem geworden, und er ist in der modernen, leistungsorientierten Gesellschaft nicht eingeplant. Der Mensch stirbt nicht mehr umgeben von Familie und Freunden, sondern einsam und der Öffentlichkeit entzogen, um den »eigenen Tod« betrogen.
Dass der Mensch wider besseres Wissen seine Endlichkeit verdrängt, ist allerdings keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Schon in der Antike gab es Klagen darüber, dass Menschen ihre Sterblichkeit vergessen und in den Tag hineinleben, als ob es den Tod nicht gäbe. Und Montaigne bemerkte in Philosophieren heißt Sterben lernen , dass seine Zeitgenossen weniger philosophisch lebten, wenn es um Tod und Sterben ginge: »Der Notbehelf des gemeinen Volks besteht darin, nicht an ihn zu denken.« Gut achtzig Jahre später ergänzte Blaise Pascal in Fragment 168 : »Da die Menschen unfähig waren, Tod, Elend, Ungewissheit zu überwinden, sind sie, um glücklich zu sein, übereingekommen, nicht daran zu denken.« Das aber sei ein elender Trost, der das Übel nicht kuriere, sondern es verberge.
Philippe Ariès beschreibt in seiner Geschichte des Todes als eine Konstante der Gesellschaften des 20. Jahrhunderts das »Verdrängen« des Todes. Der Tod ist zum Tabu geworden, man redet nicht mehr darüber. Er ereignet sich nicht mehr zu Hause, unter den Augen der Angehörigen und Freunde, sondern in der Einsamkeit des Krankenhauses. Die traditionellen Riten wie die »letzte Ölung« des Sterbenden werden durch eine diskrete, verweltlichte Zeremonie ersetzt. Öffentliches Trauertragen ist nicht mehr gebräuchlich. Die religiösen Darstellungen des Jenseits und des Seelenheils sind in Vergessenheit geraten. Der letzte Wille des Toten gilt der Verteilung seiner materiellen Güter, nicht der Sorge um seine Seele.
Im Lauf der Geschichte, sagt Ariès, hat sich die Einstellung zum Tod
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