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Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)

Titel: Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz Roth
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nicht umkehrbar sind: Es gibt kein Zurück zu Familie, zu Geistlichkeit. In der Grabkultur unserer Gesellschaft lassen sich die Trends und Widersprüche besichtigen. Kollektive lösen sich in immer kleinere Gruppe auf – bis hin zum vereinzelten, vereinsamten Menschen, der stirbt, ohne dass überhaupt irgendwer um ihn trauert: Alte, Alleinstehende, Kinderlose – sie bleiben am Ende immer häufiger ohne jede Begleitung, und, anonym bestattet, ohne Andenken.
    Die moderne Gesellschaft entsorgt ihre Toten. Der Tod hat keine eigenständige Bedeutung mehr, er verliert seine Einbindung ins Leben. Der Tod kommt nur noch als die Systemgrenze vor, die der biologischen Macht gesetzt ist. Der Versuch aber, den Tod auf seine Rolle als »nicht zum Leben gehörig«, als Grenzstrich zu reduzieren, rächt sich. Grenzen wir den Tod aus, verblasst auch das Leben.
    Die säkularisierte und individualisierte Lebensweise erzeugt einen Wertewandel, der die Frage nach dem Sinn von Leben und Sterben aufwirft. Zu den Imperativen von Flexibilität und Individualität gesellt sich im 20. Jahrhundert ein weiterer, der die Verdrängung von Tod und Trauer fördert: »Sei glücklich!« ist die Parole einer Gesellschaft, die alles, was sich der Kraft des Verstandes und dem Fortschritt entgegenstellt, als Leiden bezeichnet: »Wir haben heute alle Rechte außer dem einen, unglücklich zu sein«, resümiert Pascal Bruckner in Verdammt zum Glück . Glück gilt heute nicht mehr als Geschenk gütiger Mächte, sondern als Aufgabe des Einzelnen. Auf der individuellen Ebene sind wir zu sehr damit beschäftigt, das Glück zu suchen, um uns mit dem Leiden zu befassen. Wir sind zu sehr damit beschäftigt, die nächsten Dinge in den Griff zu bekommen, um uns die Zeit zu nehmen, uns um die letzten Dinge zu kümmern. Aber dabei verkennen wir, wie sehr die Beschäftigung mit den letzten Dingen die nächsten Dinge – die Wichtigkeiten und Wertigkeiten im Leben – verändert. Was wäre wichtig, wenn Sie wüssten, dass Sie noch zwei Jahre zu leben hätten? Zwei Wochen? Zwei Tage? Wie würden sie diese verbringen wollen? Wir haben vergessen, wie eng beides zusammenhängt.
    Tod und Trauern anzunehmen und zu ertragen ist eine provozierende Forderung in einer Zeit, da eigentlich alles manipulierbar ist oder zu sein scheint. Keine Versicherung, keine spezielle Wissenschaft und keine intelligente Theorie helfen gegen die Grenze, die der Tod setzt. So ist »der Tod« ein Sammelbegriff für das, was wir nicht begreifen und nur wenig beeinflussen können, dem wir aber mit elementarer Gewalt ausgeliefert sind. Ohnmacht und Begrenzung sind Themen, die in unserem Jahrhundert in Westeuropa sehr unbeliebt sind.
    Die modernen Gesellschaften sind Leistungsgesellschaften. Wer hilfsbedürftig wird, riskiert vor dem physischen den sozialen Tod: Du bist nicht mehr aktiv, nicht mehr leistungsfähig – also bist du tot. Es verwundert nicht, dass auch Trauernde von dieser Ausgrenzung betroffen sind. Die Unersetzlichkeit des Verstorbenen für die Hinterbliebenen steht im Widerspruch zur Ersetzbarkeit in der Leistungsgesellschaft – am Arbeitsplatz ist jeder austauschbar geworden, ein Rädchen in einer Maschinerie, die jederzeit auch ohne ihn effizient produziert.
    Es ist kein Zufall, dass Sterben und Trauer an den Rand der Gesellschaft verbannt sind, denn wie in allen Kulturen und Zeiten sind sie Spiegel der gesellschaftlichen Werte, der Leitideen und Vorstellungen vom Leben. Die Trends, die Veränderungen, die Widersprüche, die andere Bereiche des Lebens – von der Familie bis zur Arbeitswelt – prägen, finden in der heutigen Sterbe- und Trauerkultur ihren Niederschlag. Für die Antwort auf die Frage, wie eine Wiederentdeckung der Sterbe- und Trauerkultur aussehen kann, ist nicht nur ein Bild der Situation notwendig. Es ist hilfreich, den Blick zurückzuwenden und sich anzusehen, wie wir dahin gekommen sind, wo wir heute stehen. Wann und warum haben wir – als Einzelne, als Gesellschaft – das Sterben, das Abschiednehmen, das Trauern verlernt?
    Rituale hatten ihren Sinn. Unsere Trauerrituale sind heute nicht mehr gebunden an eine Religion, aber sie unterscheiden sich von Gewohnheiten und Routinen. Sie sind nicht beliebig, sie beziehen ihre Wirksamkeit daraus, dass alle sie kennen und befolgen. Das schafft Sicherheit und ein Gefühl von Verbindung oder Gemeinsamkeit. Wir sterben und trauern, wie wir leben: vereinzelt und ohne gesellschaftlich bindende Formen in einer Kultur, die

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