Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
allmählich gewandelt. Etwa im 2. bis 3. Jahrhundert wurde die bis dahin in Europa gebräuchliche Feuerbestattung durch die Körperbestattung ersetzt, und zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert vollzog sich eine der wichtigsten Veränderungen in der Sozialgeschichte des Todes in der westlichen Welt: die Anordnung des Gemeindefriedhofs rund um die Kirche. Die Toten hielten so die Lebenden fest, und die meisten europäischen Landschaften sind davon immer noch geprägt. Kirche und Friedhof bilden den Mittelpunkt der Dörfer, um den sich die Wohnhäuser in konzentrischen Kreisen gruppieren.
Etwa um das 12. Jahrhundert fingen die Leute an, sich um den »eigenen Tod« Gedanken zu machen, darum, wie sie den Augenblick des Todes erleben würden und wie es ihrer Seele im Jenseits ergehen würde. Diese eng verbunden mit dem Christentum verbundene Phase der Beschäftigung mit dem »eigenen Tod« reichte vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution. Im Zuge der fortschreitenden Urbanisierung, Verweltlichung, Industrialisierung und Verbürgerlichung im 18. und 19. Jahrhundert trat der »Tod der anderen« in den Vordergrund. Gleichzeitig wurde dem Tod sein eigener Platz zugewiesen: der große öffentliche Friedhof – eine riesige Totenstadt –, der im 18. Jahrhundert in die Außenbezirke der Städte wandert, bevor die neuen Wohngebiete die Toten wieder einholten und einbezogen. Diese noch relativ neue Phase im Umgang mit dem Tod und den Toten verändert sich unter unseren Augen und macht einer Verdrängung des Todes und der Trauer Platz. Gräber werden nun diskret – und fast schon anonym – gestaltet: ein einfacher Stein aus Marmor, ein Name, zwei Daten, prunklos – ni fleur ni couronne , »weder Kranz noch Blumen«.
Über Jahrhunderte blieben in der Zeit des »gezähmten Todes« die essenziellen Aspekte bei der Durchführung des »Übergangsritus« des Todes die gleichen: die Begleitung der Sterbenden im Todeskampf, die religiösen Riten des christlichen »guten Todes«, der öffentliche Charakter der Bestattungsfeierlichkeiten sowie die periodische Erinnerung an den Verstorbenen im Rhythmus: Neun-Tage-Amt, Dreißig-Tage-Amt sowie Jahresgedächtnis als bis ins Kleinste geregelte zeitliche Struktur der »Trauerarbeit«. Die Hölle, der Glaube an Wiedergänger, die Begräbnisökonomie, die sich hieraus entwickelt hat, festigten die Macht der Kirche über die christliche Gesellschaft, indem die Priester zu unentbehrlichen Mittlern zwischen den Menschen und dem Jenseits wurden. Alles, was mit dem Tod zusammenhing, besaß einen entscheidenden Platz im Denken, in den Gebräuchen und auch in der ideologischen und materiellen Macht der Kirche. Der Tod ist nicht »der Schatten des Lebens«, sondern der immaterielle Horizont, der dem Leben Sinn verleiht.
Das Individuum und das kollektive Gedenken
Laut Ariès hat die Gesellschaft im 20. Jahrhundert »den Tod ausgebürgert«, »ausgenommen den Tod der großen Staatsmänner«. Auch das Leichenbegängnis verliert, erst in der Stadt, später auch auf dem Land, an Pomp und Glanz. Anstatt zu feiern, bringt man die Sache hinter sich. Es beginnt, was Ariès in seiner Geschichte des Todes die »Medikalisierung« des Todes nennt. Der Kranke verschwindet in der Klinik, man vermeidet die Gerüche, den Anblick. Aus dem einstmals »schönen« Tod wird »der schmutzige, der unerträgliche, den Einzelnen überfordernde Tod«. Das Krankenhaus wird zum »Ort des normalen Todes«. Dem entspricht, dass es unschicklich wird, Trauer zu zeigen. Das Ideal ist die unbewegte Miene.
Der Tod prägt nicht nur das Verständnis vom Menschen, sondern bildet die Grundlage der kollektiven Erinnerung oder der für jede Kultur charakteristischen »Gedächtniskultur«, wie es Jan Assmann in Das kulturelle Gedächtnis ausdrückt: »Der Tod ist die Ur-Erfahrung solcher Differenz [zwischen Gestern und Heute], und die an den Toten sich knüpfende Erinnerung [ist] die Urform kultureller Erinnerung.« Die Geschichte der Erinnerung überschneidet sich an vielen Punkten mit der Geschichte des Todes.
Die zahllosen Kriege des 20. Jahrhunderts, insbesondere die beiden Weltkriege und die großen Genozide, vor allem die Vernichtung der kontinentaleuropäischen Juden, haben viel kreative Nachdenklichkeit über die Formen kollektiven Totengedenkens angeregt. Die Erinnerung an die zahllosen Opfer verband sich mit der Frage, inwieweit über den Tod der Vielen hinaus auch deren Individualität präsent bleiben kann. Schon in den
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