Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
Angebote auch archaische Totenvorstellungen wieder zum Vorschein kommen: So gibt es heute sogenannte »Familienaufstellungen«, in denen die Gegenwärtigkeit auch längst verstorbener Familienangehöriger für die Lösung von Problemen herangezogen wird. Ein Signal dafür, dass auch in der Moderne die Verbindung zwischen den Lebenden und »ihren Toten« weiterlebt.
Ob wir als Trauernde die Wirklichkeit eines Todes begreifen und verarbeiten können, hängt auch davon ab, ob wir in unseren Alltagsbeziehungen, in der Familie, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft die Unterstützung bekommen, die wir brauchen. Das setzt voraus, dass wir eine Vorstellung davon haben, was Trauer bedeutet. Wir wissen heute so wenig über Trauer, dass sich viele, wenn sie in die Situation kommen, fragen: »Ist mein Verhalten normal?« Zu dieser Verunsicherung trägt eine Reihe von Vorstellungen davon bei, wie Menschen auf einen Todesfall reagieren (sollten). Wahr ist jedoch: Obwohl Hinterbliebene ganz unterschiedlich trauern, ist letztlich fast jeder in der Lage, den Tod eines geliebten Menschen zu verkraften.
»Für die meisten von uns ist Trauer weder erdrückend noch permanent«, sagt George Bonnano, klinischer Psychologe an der New Yorker Columbia University, der seit fast zwanzig Jahren die verschiedensten Aspekte von Trauer erforscht. Bonanno fand (bei aller Variabilität) drei besonders häufige Muster, wie Menschen auf einen schmerzhaften Verlust reagieren: Etwa 10 Prozent verfallen in eine chronische Trauer, ihr Zustand scheint sich im Laufe der Zeit nicht zu bessern, und ihre Sehnsucht nach der geliebten Person nimmt nicht ab. Weitere 10 Prozent der Hinterbliebenen leiden ebenfalls stark unter dem Verlust, jedoch nur einige Monate lang. Danach sind sie psychisch größtenteils wieder gesund, wobei ein Rest von Schmerz bleibt. Den größten Anteil machen nach Bonnano jedoch Personen aus, die über das verfügen, was man als »Resilienz« beschreibt, die also belastbar und stabil sind: Auch sie verspüren zunächst Schmerz und Traurigkeit, doch sie entwickeln die Fähigkeit, diese zu überwinden und zurück ins Leben zu finden. Entscheidend ist, dass sie sich individuell auf einen Prozess der Verarbeitung einlassen.
Trauer braucht Vertrautheit
Es gibt unterschiedliche Modelle, wie Trauerprozesse gedeutet werden können. Der inzwischen in die Alltagssprache eingegangene Begriff der Trauerarbeit geht auf Sigmund Freud zurück: Trauer-»arbeit« besagt, dass Trauern kein passiver, sondern ein aktiver Prozess ist und entsprechend ein aktives Handeln erfordert. Trauer ist eine normale Reaktion auf einen Verlust, die mit einem tiefen Schmerz, nachlassendem Interesse an der Außenwelt und eingeschränktem Leistungsvermögen verbunden ist. Trauer kann nicht umgangen oder gar »ausgemerzt« werden. Die schmerzliche Aufgabe des Trauernden besteht darin, seine Energie (Freud prägt den Begriff »Libido«) und damit seine Aufmerksamkeit aus der Verknüpfung mit dem verlorenen Menschen zu lösen.
Ein gelungener Trauerprozess ist nach Freud dadurch gekennzeichnet, dass im Laufe der Zeit eine Loslösung erfolgt, sodass auch anderen Menschen oder Weltinhalten wieder Liebe und Aufmerksamkeit entgegengebracht werden kann. Diesen Vorgang nennt Freud in Totem und Tabu Trauerarbeit: »Die Trauer hat eine ganz bestimmte psychische Aufgabe zu erledigen, sie soll die Erinnerungen und Erwartungen der Überlebenden an den Toten lösen.«
Trauer lässt sich demnach in vier Aufgaben einteilen, die auch für andere, weniger dramatische und tiefgehende Verlusterfahrungen typisch sind: Die erste Aufgabe besteht darin, die Wirklichkeit des Verlusts anzunehmen; die zweite Aufgabe umfasst das bewusste Erleben der Gefühle, die mit dem Verlust verbunden sind; die dritte Aufgabe besteht in der Anpassung an die neue Situation, die mit dem Verlust entstanden ist; die vierte Aufgabe schließlich umfasst die Einordnung des Verlusterlebnisses und seine Integration in die Lebenesgeschichte. Diese vierte Aufgabe eröffnet einen neuen Zugang zu dem, was als Ziel eines Trauerprozesses verstanden wird. Neben das, was verabschiedet und losgelassen werden kann, tritt etwas, das bleibt und die Trauernden auf ihrem weiteren Lebensweg begleitet – die Erinnerung an den Verstorbenen und die gemeinsame Zeit.
Ein Trauerprozess setzt Ruhe und Zeit voraus. Trauernde brauchen die Gewissheit des Geborgen- und Akzeptiertseins, um diese Ruhe zu finden, und sie brauchen das Gefühl,
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